Kolumne Markenlage:
Wie der Fall Anne Spiegel unsere Gesellschaft entlarvt
Wir fordern nahbare Politiker und soziale Parteien – in Wahrheit aber wollen wir Politiker am Abgrund. Deshalb opfern Die Grünen Anne Spiegel, analysiert W&V-Kolumnist Mike Kleiß. Und mit ihr die eigene Haltung.
Ein kurzer Blick zurück in die Marken-DNA der Grünen: Als sie das erste Mal in den Bundestag einzogen, das war 1983, galten sie als eine moderne Partei, die Politik anders anpacken und eine politische Alternative schaffen wollte. Die „Marke Grün“ bestand aus Leuten, die aus Umweltverbänden kamen, aus der Friedens- und Anti-Atom-Bewegung, Dritte-Welt-Gruppen bis hin zu Fraueninitiativen.
Die Haltung der Grünen ist eine Lüge
Und immer wieder spielte die Familie eine zentrale Rolle der „Marke Grün“. So sehr, dass man ihr eine besondere Rolle einräumte. Und das ist – auf dem digitalen Papier – bis heute so. Auf der Seite der Grünen findet man dazu auch schriftlich eine klare Haltung:
„Familien sind so vielfältig wie das Leben selbst. Wir machen Politik für alle und stellen Kinder dabei ins Zentrum. Kinder und Jugendliche sind Expert:innen in eigener Sache und sollen mitbestimmen, wie ihre Welt aussehen soll. Wir sorgen dafür, dass jedes Kind mit fairen Chancen aufwächst, egal woher es kommt oder wer die Eltern sind. Wir kümmern uns darum, dass Beruf und Privatleben besser miteinander zu vereinbaren sind und Familien mehr Zeit haben.“
Seit dem Rücktritt von Familienministerin Anne Spiegel wissen wir: Das ist eine glatte Lüge. Die Statements der Grünen-Chef-Doppelspitze Ricarda Lang und Omid Nouripour zum Rücktritt machen die Grünen in diesem zentralen Purpose-Punkt komplett unglaubwürdig. Sie opfern ein Stück der eigenen DNA aus Angst vor dem Druck der Medien.
Wer sich das Statement von Anne Spiegel in ganzer Länge anhört, wer Mensch ist, wird während der langen Rede mehrfach schlucken müssen. Da ist ein Mensch bewegt, angefasst, traurig, ängstlich und echt. Eine starke Frau zeigt Reue, sie zeigt Schwäche – und sie muss sich im Jahr 2022 dafür entschuldigen, dass ihr die Familie wichtiger war als der Job.
Ernsthaft? In 2022? Wer sich dann durch den Dschungel des medialen Anne-Spiegel-Bashings kämpft, wer modern denkt und lebt, wird zwangsläufig immer fassungsloser. Ich lasse an dieser Stelle bewusst die Hetze von Bild & Co. weg, um diesen Formaten und dem Hass der sozialen Netzwerke hier nicht noch mehr Raum zu geben.
ZDF: Der Kommentar eines alten weißen Mannes
Spätestens aber beim Kommentar des Redaktionsleiters des ZDF Heute Journals, Wulf Schmiese, wird in nur einer Minute seines Aufsagers klar: Auch Teile des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens sind zurück in die 1950iger-Jahre gefallen. Es ist der Heute-Journal-Chef selbst, der das Bild des alten weißen Mannes zeichnet:
„Ja, das ist hart und ungerecht. Insbesondere für Mütter kleiner Kinder. Doch in diesem speziellen Fall hätte dennoch klar sein müssen: Das Amt geht vor.“ Und Schmiese legt noch nach: „Mit ihrem Auftritt gestern hat Anne Spiegel zumindest offenbart, was viele empfinden, die Karriere und Kinder wollen: heillose Überforderung. Wer immer ihre Nachfolge antritt, sollte das nicht vergessen.“
Wohin man auch sieht, Deutschland feiert zu großen Teilen den Rücktritt der Ministerin. Im Vordergrund steht nun die Empörung. Auch das können Deutschland und seine Medien hervorragend. Jetzt geht es um ein Übergangsgeld, das ihr schlicht zusteht. Aber auch hier brüllt die Meute erneut: Stellt sie an den Pranger. Der Medien-Sound spielt ein ähnliches Lied.
Eine Familienministerin darf ihre Familie nicht vor den Job stellen
Wohin sind wir eigentlich inzwischen gekommen? Wie weit am Abgrund sind wir selbst? Da steht eine Person am selbigen, weil sie Angst hatte zu sagen, dass ihr Mann schwer krank war, dass Corona die ganze Familie stark belastet hat, dass sie glaubte, stark sein zu müssen. Ganz einfach machen es sich die, die Anne Spiegel der Lüge bezichtigen. Sie verwechseln dies mit der Angst einer Spitzenpolitikerin, sich Schwäche eingestehen zu müssen. Wie bitter ist das bitte?
Dazu mixt man in Deutschland einen toxischen Schuss Gnadenlosigkeit. Denn, so ist der Sound: Eine normale Frau darf die Familie vor den Job stellen, eine Ministerin, und zudem noch die Familienministerin darf das nicht. Gerade sie hätte den Raum haben müssen, genau das zu tun. Das wäre ein Segen für eine moderne Arbeitswelt gewesen, zudem ein wichtiges Zeichen für die „Grüne Marke“.
Die Grünen demontieren sich selbst
Es hätte den Grünen etwas ganz wichtiges in Sachen Markenpflege gegeben: Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Stattdessen demontiert sich die Partei weiter selbst. In einem Statement von Partei-Chefin Ricarda Lang am heutigen Dienstag heißt es, dass die Nachfolgerin für Anne Spiegel schnellstens präsentiert werden solle. Die wichtigste Anforderung sei, dass die Person Verantwortung für Familien, Kinder und die offene Gesellschaft übernehme.
Na dann: Holen Sie Anne Spiegel zurück, Frau Lang! Das würde den Weg zur einer offeneren Gesellschaft sicher fördern. Und sie müssten nicht einmal ihre Homepage überarbeiten.
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