Serie:
De/Coding Culture: Spotify Wrapped, vom popkulturellen Phänomen zum Massenprodukt
Spotify Wrapped ist längst mehr als ein persönlicher Jahresrückblick. Es ist ein Format geworden, das allerdings auch Kritik erfährt. In ihrer Serie nehmen Civey-Gründerin Janina Mütze und Hip-Hop-Journalist Niko Backspin von Serviceplan Culture kulturelle Phänomene unter die Lupe.
Ob Taylor Swift mal wieder die Charts dominiert, Billie Eilish das Streaming-Jahr prägt oder du selbst überrascht feststellst, dass dein Top-Song aus einer peinlichen "Revival"-Playlist von 2016 stammt – Spotify Wrapped ist längst mehr als ein persönlicher Jahresrückblick. Es ist irgendwie ein kulturelles Großereignis mitten in der Adventszeit.
Was 2017 als charmante Datenspielerei begann, ist heute ein globales Massenphänomen, das popkulturelle Trends in der Werbung beeinflusst und zum Marketing-Blueprint für andere Brands wurde – und in den letzten Jahren dennoch überraschend viel Kritik einstecken musste, nicht nur aus der Musik-Bubble selbst.
Wrapped – der Super Bowl der Streamingkultur?
Pünktlich zur Vorweihnachtszeit ist Wrapped zu einem festen Ritual geworden – irgendwo zwischen Adventskalender-Türchen und Jahresrückblick auf Social Media. Was früher als "Gen Z-Trend" abgetan wurde, hat längst die breitere Gesellschaft erreicht. Unsere exklusiven Civey-Daten für unsere De/Coding Culture-Kolumne zeigen, dass Spotify Wrapped mittlerweile generationenübergreifend gefeiert wird. Der Effekt? Jede:r möchte Teil der kollektiven Selbstoffenbarung auf Social Media sein – und der Druck, mitzumachen, steigt. Denn hat, wer Wrapped nicht in seiner Instagram-Story teilt, überhaupt Musik gehört?
Doch trotz der Rekordzahl an Nutzer:innen, die ihr Wrapped 2024 abgerufen haben, kippte die Stimmung in der Community. Knapp 60 Prozent der befragten Wrapped-Nutzer (w/m/d) geben an, dass Spotify Wrapped ihren Musikgeschmack gut widerspiegelt, aber das ganzheitliche Erlebnis - also der Mehrwert - bleibt oberflächlich. 74 Prozent sagen, dass Wrapped sie nicht dazu inspiriert hat, neue Künstler:innen zu entdecken, und 77 Prozent sagen, dass sich ihr Streamingverhalten durch den Jahresrückblick nicht wirklich verändert hat. Was also bleibt? Große Inszenierung, Gamification oder Selbstdarstellung, wenn der eigentliche Nutzen für die Hörer:innen scheinbar so gering ist?
Ein weiterer Punkt: Die virale Sichtbarkeit von Wrapped mag riesig erscheinen, aber der Rückschluss, dass alle Nutzer:innen ihre Rückblicke öffentlich auf Instagram & Co. teilen, ist falsch. Unsere exklusive Civey-Umfrage zeigt: Über 70 Prozent der Befragten teilen ihren persönlichen Jahresrückblick nicht auf Social Media. Und doch vergleicht jeder Zweite die Zusammenfassung mit seinen Freunden. Wrapped wirkt zwar im eigenen Kosmos wie ein Mega-Event, das die sozialen Feeds dominiert – tatsächlich ist es aber eine Show, die viele nur still genießen.
Popkultur kopiert Wrapped – und das mit Erfolg
Was Spotify mit Wrapped vorgemacht hat, haben längst auch andere Marken für sich entdeckt. Apple Music bietet inzwischen einen Jahresrückblick und YouTube Music folgte mit der eigenen Version. Selbst Plattformen abseits der Musikindustrie versuchen, das Erfolgsrezept zu kopieren - teilweise extrem humorvoll. Strava erstellt Jahresrückblicke für Sportler:innen, Duolingo zeigt Sprachenlernende ihre größten Erfolge, und die Gaming-Plattform Steam wirft einen Blick zurück auf die Spielzeiten ihrer User:innen, während lokale Marken wie OBI, die Berliner Verkehrsbetriebe oder auch einzelne Sportvereine Spotify-Wrapped-Kopien längst in den Content-Kalender integriert haben.
Wrapped ist also kein Feature mehr – es ist ein Format. Ein Format, das andere Marken kopieren, weil es Resonanz findet. Das Learning? Es bietet Marken die Gelegenheit, ihre Community humorvoll zu aktivieren, Interaktion zu fördern und die persönliche Nutzung in den Vordergrund zu stellen. Denn es bedient wie kaum ein zweites Format "User Generated Content". Die Screenshots und "Shareable Assets" der persönlichen Musikgewohnheiten verbreiten sich gefühlt wie ein viraler Boomerang auf Social Media – und machen Spotify zu einem Talk About im Dezember.
Zwischen Glanz und Schatten: Die dunkle Seite von Wrapped
So strahlend das Wrapped-Event auch scheint, es gibt eine dunkle Seite. Denn während Nutzer:innen ihre Top-Künstler:innen feiern, regen sich Kritik und Widerstand unter den Artists. Ein besonders spannendes Beispiel ist die Parodie-Plattform "Spotify Unwrapped", die transparent machen will, wie wenig Artists tatsächlich an den gestreamten Songs verdienen. User:innen können auf der Seite sehen, wie viel Geld ihr Top-Artist durch ihre Streams mutmaßlich eingenommen hat. Spoiler: Es sind meist Cent-Beträge.
Zwischendurch war die Seite aufgrund von rechtlichen Schritten des Spotify-Legal-Teams offline, mittlerweile ist sie aber wieder verfügbar. Das zeigt, dass die Diskussion um faire Bezahlung von Künstler:innen nicht mehr zu ignorieren ist – auch nicht von Spotify und auch nicht von Marken, die mit Artists zusammenarbeiten. Wrapped feiert die Streaming-Welt, während Künstler:innen gleichzeitig immer lauter fordern, dass diese Erfolge auch finanziell belohnt werden müssen.
Doch das ist nicht die einzige Schattenseite. Auch die Nutzenden selbst hinterfragen die Plattform zunehmend kritisch. 72 Prozent der Befragten in der exklusiven Civey-Umfrage geben an, dass sie Sorge haben, dass digitale Dienste wie Spotify zu viele persönliche Daten sammeln. Während die personalisierten Einblicke von Wrapped für viele Teil der Faszination sind, wächst das Unbehagen über die Datensammelwut im Hintergrund. Diese Spannung zwischen personalisierter Bequemlichkeit und Privatsphäre wird zunehmend spürbar.
Summary: Wrapped ist Popkultur pur…
Einerseits ist Spotify Wrapped das perfekte Beispiel dafür, wie Marken zur Popkultur werden. Wrapped ist weit mehr als ein Rückblick – es ist Ritual, Selbstinszenierung und sozialer Beweis zugleich. User:innen lieben es, ihre musikalischen Obsessionen zu teilen – sei es, um Stolz zu zeigen oder mit Selbstironie zu punkten. Diese "Teilen-Kultur" hat einen so starken Sog entwickelt, dass andere Plattformen das Konzept adaptieren. Das Wrapped-Format ist zum popkulturellen Standard geworden – und hat Spotify selbst zu einer sichtbaren Zeitgeist Marke gemacht.
…aber ist Wrapped mehr Schein als Sein?
Andererseits wird Wrapped 2024 zum Sinnbild dafür, wie die Erwartungen der Community verfehlt wurden. Die Mechanik funktioniert nicht mehr allein durch die bloße Wiederholung des Formats – sie braucht frische Impulse. 2024 fehlte es an Neuheiten wie personalisierten Features, überraschenden Insights oder kreativem Storytelling. War die Erwartungshaltung also höher als das gebotene Erlebnis? Wenn selbst Hardcore-Spotify-Fans auf X posten, dass sich Wrapped wie eine "Hausaufgabe" anfühlt, ist klar, dass das Erlebnis überdacht werden muss.
Lösen Communitys die klassische Zielgruppe ab? Immer mehr Unternehmen stehen vor der Herausforderung, dass sich mit der Fragmentierung der Medienlandschaft auch ihre Kundschaft vervielfältigt hat. Wer in dieser Gemengelage kommuniziert, muss die kulturellen Codes dieser Communitys kennen, denn sie bestimmen die Wahrnehmung einer Marke.
Mit seinen Panel-Gästen, u.a. Bettina Fetzer von Mercedes-Benz und Christioe Wolburg von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), diskutiert Conrad Breyer, W&V-Redakteur für Agenturstrategie, Kreation und Design, am 19. März beim Panel "Culture & Creativity" auf dem W&V Summit 2025 darüber, wie Marken in der Interaktion mit den Verbraucher:innen Trends und Zeitgeist decodieren, um Markenwerte zu schaffen.
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Die Daten sprechen eine klare Sprache: Wrapped scheint die persönliche Nutzung genau zu erfassen, aber nur 60 Prozent der Befragten fühlen sich in ihrem Musikgeschmack wirklich widergespiegelt. Das ist solide, aber nicht herausragend.
Fazit: Hat sich Wrapped totgelaufen?
Wrapped bleibt ein popkulturelles Highlight, das andere Marken in Sachen Content Marketing inspiriert – und trotzdem in einer kulturellen Sackgasse stecken könnte. Der 2024er Rückblick hat viele User:innen nicht inspiriert, während die Kritik von Künstler:innen nicht leiser wird. Gleichzeitig bleibt Wrapped eine Blaupause für andere Branchen, die auf personalisierte Rückblicke setzen.
Was bleibt? Wrapped ist längst mehr als ein nettes Gimmick. Es ist eine popkulturelle Instanz, die zeigt, wie sich Kultur und Marketing verzahnen. Doch wie bei allen Ritualen braucht es ab und zu eine Neuerfindung, um die Magie zu bewahren. Muss Spotify 2025 also noch genau hinschauen und die Kritik der Community ernster nehmen als die Cent-Beträge, die in "Spotify Unwrapped" sichtbar werden?
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