Thomas Koch macht Pause:
Mr. Media: Die letzte große Abrechnung
Thomas Kochs Rückkehr ins Agenturgeschäft hat eine unangenehme Nebenwirkung: Er legt seine W&V-Kolumne "Mr Media" auf Eis. Aber erst nach diesem (vorerst) letzten großen Rant.
Sie haben es gelesen: Ich habe eine neue Mediaagentur gegründet. Die Existenz von TKD Media, da waren sich W&V-Chefredaktion und ich schnell einig, birgt Interessenskonflikte für meinen Mr. Media-Blog. Wir haben uns auf die Sprachregelung "Sabbatical" geeinigt. Das heißt, ich komme vielleicht wieder. Man weiß nur nicht wann. Doch bevor ich gehe ("Niemals geht man so ganz…"), muss ich noch etwas loswerden.
In meiner letzten Kolumne hatte ich mich darüber mokiert, dass viele Mediaagenturen mit veralteten Standards arbeiten und geradezu planlos, lieblos und uninspiriert an die Arbeit gehen. Dass bei ihnen Strategien in der Regel Mangelware sind und die beraterische Qualität kaum einen Pfifferling wert ist. Dass die "Qualität der Mediaberatung und Mediaplanung in vielen deutschen Mediaagenturen auf einem nie dagewesenen, besorgniserregenden Tiefpunkt angekommen ist."
Wenn man also annehmen muss, dass manche Mediaagenturen nicht über genügend Hirnschmalz verfügen, um so etwas wie eine Strategie zu entwickeln und daraus vernünftige Mediapläne abzuleiten, so würde man wenigstens hoffen, dass ihre Tools etwas taugen. In irgendwas müssen sie ja gut sein. Da schlägt man wenige Tage später "Horizont" auf - und erschaudert.
In ihrem Praxis-Bericht erläutert dort die unabhängige Mediaagentur JOM, was sie entdeckte, als sie den TV-Mix unzähliger TV-Kampagnen aus unterschiedlichsten Branchen auswertete. Man kommt zu einem verheerenden Schluss: Mediaagenturen planen TV eklatant an den Zielgruppen vorbei. JOM sieht dafür zwei Gründe. "Entweder fehlt die planerische Qualität oder es findet eine Vermarktung von Inventar bzw. Restinventar statt."
Wer Männer nicht kann, kann auch keine Frauen
Tatsächlich führen sie dort ein Beispiel auf, bei dem eine Agentur 15 Prozent der Etatmittel zur Ansprache einer männlichen Zielgruppe in weibliche Umfelder ("Frauenserien", "Daily Soaps") investiert, die - Überraschung - überwiegend Frauen erreichen. Typisch männliche Umfelder werden dagegen ignoriert. Nun könnte das ein Einzelfall sein, dass also der TV-Experte der Agentur nicht sonderlich gut männliche Zielgruppen zu optimieren vermag.
Doch bei weiblichen Zielgruppen sieht es nicht besser aus. Bei einem (bisher nicht gezeigten) Beispiel wendet sich die TV-Planung an 20- bis 49-jährige Mütter. Hier werden mehrfach Umfelder mit absurd geringen Affinitäten (z.B. "Privatdetektive im Einsatz") eingeplant, die keine Chance haben, die Zielgruppe zu erreichen. Wenn dann jemand ein solches Umfeld gleich dreißig Mal einsetzt, dann vermutlich mit Absicht.
Wir alle kennen es: Man sieht nachts einen Horrorfilm und wird im Werbeblock plötzlich von der gesamten P&G-Markenpalette zugedröhnt. Wieder einmal hat Group M für ihre Kunden ganze Werbeblöcke aufgekauft und strahlt scheinbar wahllos aus, was an Spots herumliegt. Die "Absicht" dabei kann nicht sein, die Zielgruppe zu erreichen. Denn Pampers-Käuferinnen brauchen nachts Schlaf und sehen keine Splatter-Filme. Doch welcher Plan steckt dann dahinter?
Befragt man dazu Kunden, erhält man zwei Antworten. Die eine lautet: Man bekomme von der Agentur nicht die Sendepläne, sondern lediglich Sender- und Zeitschienen-Mix. Die andere: Man besäße zwar die Sendepläne, habe aber nicht die Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Man vertraue darauf, dass die Agentur alles richtig mache und die Reportings sähen gut aus.
Media-Milchmädchen
Landläufig nennt man dies Milchmädchenrechnung: Man erwirbt etwas, das wertlos ist und erhält darauf einen Rabatt von 80 Prozent. 80 Prozent von null bleiben jedoch null. Außer dass man dafür 20 Prozent bezahlt hat.
Nun haben die Sender zwangsläufig Inventar, das weder über Reichweite, noch über besondere Affinitäten verfügt. Daher werden diese Sendeplätze hoch rabattiert. Soweit das Angebot. Die Agenturen sorgen erst für die Nachfrage. Sie jubeln ihren Kunden dieses Inventar unter. Und verdienen selbst gut daran, weil sie hier eine höhere Marge einfahren, als ihnen das sonst möglich ist.
Machen wir das Beispiel verständlicher: Sie sind dreifacher Familienvater und beauftragen eine Agentur mit dem Kauf eines Vans. Sie liebäugeln mit einem Mercedes trotz langer Wartezeiten und wenig Rabatt. Die Agentur kauft stattdessen ohne Rückfrage einen Dacia Sandero (sorry, Dacia), zeigt Ihnen die enorme Geldersparnis und gibt Ihnen darauf noch 25 Prozent Rabatt (sie erhielt vom Händler zuvor 40 Prozent), womit Sie endlich den Angelurlaub mit Ihren Buddies in Kanada finanzieren können. Das Ergebnis: Ihre Familie ist stinksauer. Wirklich glücklich ist nur die Agentur. Und Ihre Frau lässt sich von Ihnen scheiden, weil sie eindeutig gegen die Interessen der Marke "Familie" gehandelt haben…
Gelegenheit macht Diebe
Wenn wir die Beweggründe der Agentur (Dienstleister) für einen Augenblick beiseitelassen und nur die Interessen der Unternehmen (Kunde) betrachten, bekommt er für sein Geld nicht den angemessenen Gegenwert. Die Agentur berät ihn nicht. Sie legt nicht ihre Expertise in die Waagschale und erläutert, dass diese Sendeplätze zwar billig sind, der Markenkommunikation jedoch keinen Mehrwert bringen.
Würde sie ihrem Beratungsauftrag gerecht, riete ihm also auf dieses Angebot zu verzichten, doch der Kunde will diese Sendeplätze sprichwörtlich um jeden Preis, wäre der Kunde selbst schuld. Diese "Billig ist besser"-Mentalität ist im Umgang mit TV oft anzutreffen, besonders häufig jedoch bei Online - und erst recht bei Programmatic.
In der digitalen Medienwelt ist selbst für gut ausgebildete Kunden die Transparenz derart gering, dass den Agenturen Tür und Tor für "Neu-Definitionen" der Wertschöpfungskette weit offenstehen. Nicht alle Agenturen werden dadurch zu Betrügern, aber Sie kennen das Sprichwort: Gelegenheit macht Diebe.
Besser Bäume als Media
Wenn man erfährt, dass in Deutschland 800 Millionen Euro für Online-Werbung ausgegeben werden, die niemand sieht, überfällt einen das Bedürfnis lauthals zu lachen. Schuld daran haben einzig die Mediaagenturen. Ralf Heller, CEO von Virtual Identity, kommt bei seiner Berechnung auf diese absurd hohe Summe. Er schlägt vor, mit diesem Geld doch besser 50 Millionen Bäume zu pflanzen.
Man versteht nun, warum P&G im vergangenen Quartal 100 Millionen Dollar an "weitgehend unwirksamer" Online-Werbung gestrichen hat. Man habe mit Bots statt mit Menschen kommuniziert:
"What it reflected was a choice to cut spending from a digital standpoint where it was ineffective, where either we were serving bots as opposed to human beings or where the placement of ads was not facilitating the equity of our brands."
Über den P&G-Schritt ist verständlicherweise eine heiße Diskussion in der Branche entbrannt.
Nichts desto trotz: Der Klickbetrug erweist sich als ein viel größeres Problem als bisher angenommen. Auch hier in Deutschland. Der Cyber-Security-Experte William Scheckel behauptet: "Wir gehen davon aus, dass heute bis zu 90 Prozent des Online-Traffics einer Kampagne aus Bot-Traffic bestehen kann."
Mit dem ganzen Geld könnte man noch besser ein paar Mediaagenturen vorfinanzieren, die ausschließlich im Sinne der Werbekunden tätig sind - und sie vor falsch investiertem Mediageld warnen. Und man hätte immer noch 780 Millionen für Bäume übrig.
Alles auf Neustart
Dies sind einzelne Beispiele, aber in ihrer Summe spiegeln sie wieder, was im Mediabereich derzeit schief läuft, was im Zusammenspiel zwischen Agenturen und Kunden, sagen wir höflich, verbesserungswürdig ist.
Müsste ich heute ein Fazit ziehen, müsste es lauten: Die große Mehrheit der Mediaagenturen und Mediaplaner sind nicht imstande, eine Mediastrategie zu entwickeln, die diesen Namen auch nur annährend verdient. Sie sind nicht einmal in der Lage, Mediapläne mit einem Mindeststandard an Qualität daraus abzuleiten, geschweigen denn für ihre Kunden unter Marketingaspekten ein Mindestmaß an qualifizierten Werbeplätzen einzukaufen. Die meisten Mediapläne ließen sich im Nu um 20, 30 Prozent und mehr optimieren.
Unterm Strich heißt das: Die meisten Mediapläne sind nicht nur schief, sie sind Murks. Mist. Müll. Mediaagenturen, die solche Pläne verantworten, gehören verboten.
Die Kunden müssen sich auf der Stelle aufschlauen, den Medienmarkt und seine Entwicklung besser verstehen, um auf Augenhöhe die Agenturen professioneller briefen und kontrollieren zu können. Sie müssen ihre Marketingverantwortlichen dort austauschen, wo immer weiter gewaltige Media-Gelder wirkungslos versenkt werden.
Viele Mediaagenturen haben den Ernst der Lage nicht erkannt. Sie waren stets cleverer als alle Kunden und Vermarkter zusammen. Dafür Respekt. Doch nun ist ein Punkt erreicht, wo ihr Geschäftsmodell am Ende ist. Sie müssen mehr als nur renovieren, sie müssen grundsanieren.
Dazu eine Hilfestellung von mir: Das Wort "Dienstleistung" ist abgeleitet aus "dio" und bedeutet "Knecht". Es bedingt auch, eine Wertschöpfung zu leisten. Ein Dienst wiederum "nützt primär nicht dem eigenen Interesse, sondern dem des Dienstherrn". Think about it.