Brüderle-Gate:
Aufschrei gegen #aufschrei: "Bild" setzt sich an die Spitze der Brüderle-Versteher
"Bild" nimmt zur vom FDP-Mann Brüderle ausgelösten Sexismus-Debatte Stellung - und sammelt weibliche Stimmen gegen Laura Himmelreich...
Lange hat sich "Bild" in der von FDP-Spitzenmann Rainer Brüderle ausgelöste Sexismus-Debatte zurückgehalten. Jetzt hat das Springer-Blatt einen eigenen Blickwinkel gefunden – der da lautet: "Aufschrei gegen den Aufschrei". Unter der Überschrift "Brüste werden zum Handicap" setzt sich "Bild" am Dienstag an die Spitze der Brüderle-Versteher. Und zitiert vor allem Frauen, die die "Stern"-Autorin Laura Himmelreich und "die von ihr ausgelöste Kampagne kritisieren", wie das Blatt schreibt.
Allen voran führt "Bild" die Frau des nordrhein-westfälischen FDP-Chefs Christian Lindner an: Dagmar Rosenfeld, die in einer Kolumne für die "Rheinische Post" formuliert: "Frauen ziehen sich in die Opferrolle zurück, und die Brüste werden zum Handicap." Daher sei, so die Journalistin, der Aufschrei in diesem Falle nicht angebracht. "Sexismus beginnt dort, wo Macht missbraucht wird: Wenn berufliche Positionen, Abhängigkeitsverhältnisse oder körperliche Stärke genutzt werden, um einem anderen Menschen gegen seinen Willen nahezukommen. Hier ist ein Aufschrei angebracht. Aber auch nur hier", zitiert "Bild" die "FDP-nahe" Journalistin.
Als weitere Beispiele des weiblichen Aufschreis gegen den #aufschrei - unter dem Hashtag tauschen seit Donnerstag vergangener Woche unzählige Nutzer ihre Erfahrungen und Meinungen zum Thema sexuelle Übergriffe aus - führt "Bild" die "Spiegel"-Journalistin Christiane Hoffmann an und "ihren Abend" mit Rainer Brüderle an der Hotelbar am besagten Abend im Januar 2012. Sie erinnere sich zwar an den Griff an ihrem Ellbogen, beschreibe aber anders als ihre "Stern"-Kollegin Himmelreich auch, wie Journalisten "darauf angewiesen" seien, "Nähe mit Politikern herzustellen". In der "BZ am Sonntag" frage die Journalistin Ilka Peemöller: "Aber wo führt es denn hin, wenn bei einem harmlosen Gespräch bereits von Sex-Skandal die Rede ist? Wenn eine lapidare Dirndl-Dekolleté-Anspielung in einer enttabuisierten Zeit von Dschungelcamp und Internet zu einem Geschlechter-Armageddon führt?"
Und auch "Bunte"-Chefredakteurin Patricia Riekel wird ins Feld geführt, die meint, Laura Himmelreich hätte Brüderle beim ersten Kommentar, der ihr anzüglich erschien, sofort deutlich in seine Schranken weisen oder gehen können. Dazu packt "Bild" eine eigene Abstimmung unter 63.000 Bild.de-Lesern. Demnach sind 76 Prozent der Meinung, Brüderle müsse sich für seine Worte nicht entschuldigen und 75 Prozent halten es für falsch, dass der "Stern" den Artikel überhaupt gedruckt habe.
Immerhin endet der "Bild"-Artikel mit dem Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler, dass er trotz der vermuteten "Kampagne gegen die gesamte FDP" eine gesellschaftliche Debatte über Sexismus als notwendig einstufe. Auf Anfrage äußert sich Parteimitglied Hasso Mansfeld gegenüber W&V Online ähnlich; der Kommunikationsberater und Mitinitiator der Gruppe FDP Liberté bedauert indes, dass der Schuss des "Stern" aus seiner Sicht nach hinten losgegangen ist: "Dadurch, dass ein vergleichsweise harmloser Fall als ‚Trigger‘ genommen wurde, ermöglicht man der Fraktion der Grabscher und Chauvis auf breiter Bühne zu agitieren. Denn jetzt können sie ihrerseits den Casus aufgreifen und es zur Verharmlosung von Sexismus instrumentalisieren. In der Geschichte gibt es daher nur Verlierer: die beiden Protagonisten, der ‚Stern‘ und die Antisexismus-Bewegung", so Mansfeld.
Die Hotelbar-Affäre zeige seines Erachtens auch eine "zu große Nähe von Journalismus und Politik". Mansfeld: "Von den politischen Redakteuren, die sich gerne als die Elite ihrer Zunft betrachten, wird nur allzuhäufig mit den Fingern auf ihre Kollegen aus den Wirtschaftsredaktionen gezeigt, denen sie mangelnde Distanz zum Objekt der Berichterstattung vorwerfen. Für mich stellt sich schon lange die Frage, ob es angebracht ist, dass Journalisten im selben Flugzeug reisen wie Kanzler oder Minister." Reisekosten würden dann vom Objekt der Berichterstattung übernommen und die Mitnahme in der Kanzlermaschine gelte als Prestigesache. Unabhängigkeit werde dadurch nicht gefördert, gibt der FDP-Mann zu bedenken.