Kommentar:
Sexuelle Übergriffe und Brüderle-Gate: Eine Frage des Machtgefälles
Im Netz tobt die Diskussion: Durfte der "Stern" Rainer Brüderle derart bloßstellen, weil er eine Journalistin angebaggert hat? Falsche Frage, findet W&V-Autorin Susanne Herrmann. Und warnt vor Nebenschauplätzen.
Im Netz tobt die Diskussion: Durfte der "Stern" Rainer Brüderle derart bloßstellen, weil er eine Journalistin angebaggert hat? Falsche Frage, findet W&V-Autorin Susanne Herrmann.
Danke, Laura Himmelreich! Eine Offenbarung wie diese war lange überfällig. Denn ich habe so etwas in den ersten zehn meiner knapp 20 Berufsjahre oft genug so erlebt wie Sie.
"Warum hast du dann darüber nie geschrieben?", fragt mich der Kollege. Weil ich auch nicht darüber schreibe, dass ich nach dem Aufstehen Zähne putze. Sexuelle Belästigung war für mich so selbstverständlich geworden, dass das Thema irgendwann seine Relevanz, seinen "News-Wert", verliert. Bitter ist das, sehe ich heute. In der Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen über Brüderles Bagger-Gate wird mir klar, dass ich in meinen ersten Berufsjahren (heute nicht mehr) fortwährend sexuellen Belästigungen ausgesetzt war, mal mehr, mal weniger plump. Und stets griff sofort der Schuldreflex, den zum Beispiel kleine Kinder haben: Wenn der Mann mir gegenüber sich so benimmt, dass er es für angemessen hält, mich wie ein Stück Fleisch zu behandeln, dann habe ich etwas falsch gemacht. Schuldbewusstsein und Scham sind also weitere Gründe dafür, dass ich diese ganz normalen Vorfälle nicht weiter publik gemacht habe. Wenn es morgens regnet, twittere ich das auch nicht, sondern nehme eben einen Schirm mit.
Je größer das Ego des Mannes, je größer das (wahrgenommene) Machtgefälle, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass vor allem junge Frauen sich in Situationen wiederfinden wie Laura Himmelreich. Journalistin und Politiker, Chef und Praktikantin, Groupie und Popstar – das Personal ist austauschbar. Der Höhepunkt meiner Karriere als unfreiwilliges Appetithäppchen war auf einer betriebsinternen Feier (übrigens nicht bei W&V) mit prominenten Gästen, wo ich binnen einer Stunde eindeutige Angebote von allen fünf Mitgliedern einer Band inklusive ihres Managers erhielt. Mein Fehler dabei, das weiß ich nun, gute zehn Jahre älter, war lediglich der, freundlich lächelnd meinen Gastgeberpflichten nachgekommen zu sein. Freundlich lächelnd und in der Hoffnung, dabei noch nett genug zu sein, hab ich mich verabschiedet – statt die Typen auszulachen, bloßzustellen oder Hotelschlüssel einzusammeln, um sie dann eiskalt zu versetzen. Dass es für viele Frauen schwer ist, angemessen mit so offensiver Anmache umzugehen, können viele Männer gar nicht nachvollziehen, nicht mal die, die sich so gar nicht aufführen und finden, ein Kerl wie Brüderle mache sich doch lächerlich. Das Opfer empfindet das meistens nicht so.
Dass Frauen Zudringlichkeiten, sabbernde Gier und Betatschen als normal empfinden, ist schrecklicher noch als die Tatsache, dass sexuelle Belästigung so häufig vorkommt. Dass es nicht normal sein darf, das macht uns heute die "Stern"-Affäre klar. Dass Laura Himmelreich und der "Stern" kein gutes Gespür bewiesen haben, was den Zeitpunkt der Geschichte angeht und die Fokussierung auf einen einzelnen Mann, schadet leider der Sache sehr. Denn die Missbrauchs-Verharmloser bekommen damit Munition, die Geschichte herunterzuspielen und auf einem Nebenschauplatz auszufechten. Das sollten wir nicht zulassen. Nur Mut, Frau Himmelreich!