Ukraine, Afghanistan, Syrien: Sie berichten immer wieder aus Regionen dieser Erde, in denen Krieg herrscht. Trotzdem werden Sie nicht gerne als Kriegsberichterstatter bezeichnet. Warum?

Weil Kriegsberichterstatter ein eigenes Berufsfeld ist. Ich bin ja auch kein Ralleyfahrer, nur weil ich oft das Team mit dem Auto durch unwegsames Gelände fahre. Ronzheimer, Reuter und Breuer sind Kriegsberichterstatter, die ihre Seele diesem Beruf gewidmet haben. Ich möchte das nicht. Ich sehe mich eher als „Nachkriegsberichterstatter“: Wir kommen, wenn die Katastrophe die Gesellschaft zersetzt hat.

„Ich suche und finde das Schöne, immer und überall, egal, wo auf der Welt ich bin“, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch „Alles muss raus. Notizen vom Rand der Welt“. Wie geht das, wenn man mit einer kugelsicheren Weste durch Bagdad läuft, wenn man mit dem Schicksal von Kindern in syrischen Flüchtlingslagern konfrontiert ist oder im Kongo Menschen trifft, die wie Sklav:innen leben müssen?    

Die Grausamkeit eines Moments wirkt nur, wenn wir uns der Schönheit der Welt bewusst sind. Wenn alles grausam ist, ist das Schlechte Normalität. Ich kann in Bagdad mit einem französischen Legionär Liegestütze machen, im Kongo auf einem Markt Zuckerrohr naschen oder in Syrien Fatoush Salat essen und mir die Geschichten des Lebens in diesem Land anhören. Und es macht mich glücklich. Schönheit ist Harmonie, und die gibt es oft auch im Krieg. 

Gab es früher weniger Notstände, Elend und Leid auf der Welt – oder erfährt man heutzutage nur mehr davon?

Früher war Elend ein allgemeingültiges Gut. Vor hundert Jahren verreckten die Leute noch in ihren Hinterhofwohnungen in meiner Heimatstadt Berlin an Typhus. Elend war der Ist-Zustand. Heute scheint das Elende aus unserem Alltag hier in Deutschland weitgehend ausgeblendet: Wohlstand und Ignoranz fügen sich gut zusammen. Und wir erschrecken, wenn es wieder in unsere Wahrnehmung eindringt. Denn dann wird auf einmal wieder sehr greifbar: Nur weil es uns, also dem kleinsten Teil der Welt, gut geht, heißt es nicht, dass es allen gut geht. Und das führt zur erschreckenden Erkenntnis: Hm, unser Wohlstand ist fragil. 

Ihre Reportagen sind auch deswegen so besonders, weil Sie sich auf die Protagonist:innen und deren Weltsicht einlassen. Wie schwer fällt es Ihnen, beim Gespräch mit Anhänger:innen der rechtsextremen Szene, mit Querdenker:innen, mit Angehörigen des Islamischen Staates ihre eigenen Emotionen zu bändigen und wie gelingt Ihnen es Ihnen, neutral zu bleiben?

Ich habe das auch erst lernen müssen. Früher fiel es mir erheblich schwerer, den anderen nicht von meiner männlichen, weißen, sozialdemokratischen CIS-Sicht überzeugen zu wollen. Aber inzwischen habe ich das abgelegt. Denn es geht nicht um mich. Ich will doch wissen, was den anderen bewegt – und dafür muss ich mich zurücknehmen. Aber das Gefühl, wenn sich eine fremde Person öffnet und einfach erzählt, ohne Furcht, ist sehr besonders und gilt es unbedingt zu erhalten.

Sie sind für „Uncovered“, „ProSieben Spezial“ und „ProSieben Thema“ oft undercover unterwegs. Mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen sind Sie als investigativer Journalist in Ihrer Arbeit am häufigsten konfrontiert?

Zeit! Wir brauchen als investigative Journalisten Zeit. Und natürlich auch Geld. 

Ihre Undercover-Recherchen zur Dokumentation „ProSieben Spezial. Rechts. Deutsch. Radikal“ gipfelte darin, dass sich der damalige AfD-Pressesprecher zu menschenverachtenden Äußerungen insbesondere gegenüber Migrant:innen hinreißen ließ. Als Folge wurde er seinen Parteiaufgaben entbunden. Wie sehen Sie das?

Es zeigt, wir als Produktionsfirma, als Journalistenbüro, haben korrekt gearbeitet. Ich ziehe keine Genugtuung aus der Entlassung von Lüth. Eher Traurigkeit, dass im 21. Jahrhundert ein so rückständig denkender Mann in einer so wichtigen Funktion tätig sein konnte. 

Das Erbe des Dschihad, illegaler Organhandel, der Blauhelm-Einsatz in Mali – nur drei der Themen, mit denen Sie sich in der Vergangenheit für „Uncovered“ oder „ProSieben Spezial“ und „ProSieben Thema“ beschäftigt haben. Wann ist etwas für Sie spannend genug, um zur Kamera zu greifen?

Wenn es relevant ist, dann interessiert es mich auch. Um ehrlich zu sein: Es gibt nur recht wenige Dinge, die mich überhaupt nicht interessieren. Eines davon ist Sportjournalismus. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass ich mich in die Fußball-Amateurliga einschmuggle, um Doping nachzuweisen. 

In Bezug auf die Ukraine-Krise wird auch diskutiert: Was darf man nicht zeigen und was muss man zeigen? Wie entscheiden Sie das für sich bzw. bei Ihren Produktionen?

Das ist eine extrem wichtige Frage, die viel zu wenig diskutiert wird. Die Darstellungen aus Butscha oder aus der Ostukraine waren und sind sehr verstörend. Das uneingeordnete Zeigen der Bilder ist meines Erachtens nicht nur unmoralisch, sondern auch gefährlich. Stichwort: Sekundärtrauma. 

Gute Reportagen und Dokumentationen erfordern umfangreiche Recherche, brauchen Zeit und kosten Geld. Gleichzeitig scheint in der modernen Medienlandschaft die Gier nach massenhaften Klicks durch leicht verdaubare Inhalte weit verbreitet zu sein. Warum gelingt es Ihnen dennoch, Programmverantwortliche von Ihren eben gerade nicht geschmeidigen Themen und Projekten zu überzeugen?  

Ich glaube, unser Haussender ProSieben und damit Senderchef Daniel Rosemann und die verantwortliche Redakteurin Katja Hahn haben sehr schnell erkannt: Relevanz ist das eine Thema, Quoten ein anderes. Der Querdenkerfilm aus dem letzten Jahr hatte beispielsweise nur mittelmäßige Quoten, aber trotzdem eine sehr hohe Relevanz und das strahlt auch auf den Sender zurück. 

Ihre journalistischen Anfänge liegen bei einer Gamer-Zeitschrift. Heute sind Sie preisgekrönter Reporter und Journalist, schreiben Bücher, podcasten und leiten ihre eigene Produktionsfirma. Was raten Sie angehenden Journalist:innen für ihren Karriereweg?

Hört nicht auf die Alten. 

Zum Abschluss eine Frage an den Globetrotter in Ihnen: Was schätzen Sie am meisten, wenn Sie nach Ihren Reisen wieder zurück in Deutschland sind?

U-Bahn fahren, auf dem Rücken liegen und nach oben gucken, Straßenlärm und die vergnügliche Lust der Deutschen, immer alles besser wissen zu wollen.  

Dieser Artikel erschien zuerst am 2. Februar 2022.

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Autor: Julia Gundelach

Julia Gundelach ist freie Autorin mit Schwerpunkt Specials. Daher schreibt sie Woche für Woche über neue spannende Marketing- und Medien-Themen. Dem Verlag W&V ist sie schon lange treu – nämlich seit ihrem Praktikum bei media & marketing in 2002, später als Redakteurin der W&V.