Corporate Social Responsibility:
Angst darf keine Strategie sein
Warum Marken und Agenturen eine Emotionsverantwortung haben. Ein Appell von Thomas Knüwer, Accenture Song.
Unser Berufsalltag in Marketing, Werbung und Kommunikation besteht darin, Menschen in Zielgruppen zu sortieren, um sie genauer zu verstehen und anzusprechen. Wichtig dabei: Was sind ihre Sehnsüchte und Barrieren? Was motiviert sie, etwas zu tun – oder eben nicht.
Einer der mächtigsten Treiber, der sich nahezu überall findet, ist gleichzeitig einer der gefährlichsten: Angst.
Mensch sein bedeutet, Angst haben.
Angst ist ein Grundgefühl, das evolutionsgeschichtlich elementar für unser Überleben ist. Sie schärft die Sinne bei Bedrohung, aktiviert Kräfte und Wahrnehmung. Der Körper im Ausnahmezustand – geweitete Pupillen, Muskelanspannung, schnelle Atmung. Adrenalin! Wo ist die Gefahr? Fight-or-Flight!
Heute wissen wir, dass Angst ein Spektrum von Gefühlen umfasst: von Unsicherheiten und Zwängen bis hin zu Panik und Phobien. Oder der Angst vor der Angst. Noch immer ist sie in vielen Bereichen stigmatisiert, obwohl wir sie alle kennen.
Von Kindheit an. Die Angst, dass die Eltern nicht wiederkommen. Die Angst vor der Dunkelheit.
Egal, über welche Angst wir reden – sie wird immer als negatives Gefühl wahrgenommen. Unsere instinktive Reaktion ist damit ebenso gleich: Wir wollen, dass sie verschwindet. Sie nicht länger fühlen. „Weg mit dir, Angst! Ich will stark sein, nicht schwach!“ Doch so leicht ist das nicht.
Angstkonfrontation ist herausfordernd, also flüchten wir in Ablenkung und Vermeidung – oder scheinbar einfache Antworten. Das ist nur menschlich.
Die Ausnutzung der Angst.
Der Erfolg von angstbasierter Kommunikation ist hinreichend dokumentiert – ihre zerstörerische Macht ebenso. Im Großen, Historischen und erschreckend Aktuellen: von Inquisition und Ablasshandel bis hin zu Antisemitismus und rechtem Populismus.
Gerade letzterer nährt sich aus Angst. Schürt sie wie ein gigantisches Feuer, in dem Zusammenhalt verbrennt. „Habt Angst vor Migranten, sie nehmen euch die Jobs weg! Habt Angst vor Homosexuellen, sie nehmen euch die Kinder weg! Habt Angst vor Frauen, sie nehmen Männern die Rechte weg!“
Doch nicht nur in der Weltpolitik ist Angst eine verführerische Strategie, ihre Macht zeigt sich jeden Tag – wortwörtlich in unseren Händen. Ein Drittel (33 Prozent) der 10- bis 18-Jährigen hat online Inhalte gesehen, die ihnen Angst gemacht haben. Fast ebenso viele (27 Prozent) der 11- bis 19-Jähren geben an, sich nach dem Scrollen durch Social-Media-Feeds schlecht zu fühlen, weil sie Content gesehen haben, der sozialen Druck erzeugt. Ein unerreichbares Körperideal. Überzeichneter Erfolg. Die perfekte Ernährung. Die schönste Wohnung. Die ultimative Liebe.
Inspiration ist großartig, sie kann bewegen, öffnen, verbinden und erschaffen. Sie kann aber auch, in der falschen Tonalität und, vor allem mit toxischer Dringlichkeit und Absolutismus („Iss nur noch DAS, um erfolgreich zu sein!“), in zerstörerischen Druck enden. Ja, das Ergebnis sind mehr Views und Interaktionen für die Absender solcher Botschaften – aber eben auch Menschen, die das Gefühl haben, nicht mehr auszureichen.
Unsere Emotionsverantwortung.
Genau da kommen wir als Kommunikationsschaffende ins Spiel. Wir tragen die Verantwortung, welche Gefühle wir ansprechen – und wie. Erfolgreiche Werbung ist immer ein Produkt von Empathie. Von Verständnis und Hineinfühlen in die Leben, Bedürfnisse und Sorgen anderer. Wir verstehen dich, wir fühlen dich, wir haben etwas für dich. Das ist unser Job; Verbindungen schaffen zwischen Menschen und Marken, zwischen Bedürfnissen und Produkten.
In unserer vielschichtigen Gesellschaft und Medienwelt ist das nicht immer leicht. Wir wollen Teil sein von Kulturen und Subkulturen, wir bespielen dutzende Kanäle rund um die Uhr.
Kein Wunder, dass auch wir nach Einfachheit streben. Nach schnellen Erfolgen zu mehr Sichtbarkeit und Relevanz.
Doch genau in diesen Momenten, in denen uns eine schrille Headline lockt, ein überzeichnetes Bild unter dem Photoshopfinger juckt, wo wir kurz davor sind, MUST HAVE, MUST SEE, MUST EAT zu schreiben, sollten wir den Rechner für drei lange Atemzüge zuklappen. Ist es richtig, dass wir das schreiben, sagen oder zeigen? Erzeugen wir mit dieser Botschaft oder diesem Bild Offenheit, Veränderung und Verbindung? Oder Angst, nicht gut genug, reich genug, schön genug zu sein?
Drei lange Atemzüge.
Über den Autor: Thomas Knüwer ist Chief Creative Officer von Accenture Song in Deutschland. Seine Arbeiten für Kunden wie Netflix, Krombacher, Google, Aldi oder Zalando wurden vielfach national und international ausgezeichnet. Bei Accenture Song liegt sein Fokus darauf, Expertisen aus Kreation, Strategie und Technologie zusammenzubringen, um Lösungen jenseits traditioneller Kommunikationskategorien zu entwickeln. Knüwer ist Mitglied des Art Director's Club Deutschland und der International Academy of Digital Arts and Sciences. Neben seiner Arbeit in der Kommunikationsbranche hat Thomas drei Bücher veröffentlicht und schreibt derzeit an seinem vierten.
Dieser Beitrag ist Teil der W&V-Kolumne Creative Social Responsibility. Zuletzt sind dort unter anderem diese Themen erschienen:
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