Influencer:
Der Arzt ist längst nicht mehr der wichtigste Influencer
Wie es Amira, eine Community für Apothekenangestellte, schafft, über Lifestyle, Spaß und Probier-Boxen OTCs an die Zielgruppen zu bringen: Co-Gründer Harry Kuhlmann im Interview.
Herr Kuhlmann, was hat sich in den letzten 20 Jahren im Gesundheitsmarkt verändert? Welche Herausforderungen bringt das für das Pharmamarketing von heute mit sich?
"Patienten und Kunden sind in den letzten 15 Jahren mündig aber auch deutlich skeptischer geworden. Informationen findet man inzwischen im Überfluss, doch eine Differenzierung findet selten statt. Der Bedarf an Beratung nimmt mit steigendem Halbwissen und Unsicherheit zu. Auch werden die Menschen älter, die Herausforderungen wachsen, neue Produkte, neue Heilversprechen, neue Therapien. Das gesamte Gesundheitssystem befindet sich in einem riesigen Informations-Change-Prozess. Früher war der Arzt das Zentrum des Wissens zu allen Gesundheitsfragen. Ärzte stellten die Diagnose und verordneten Produkte auf Rezept, die Beratung in Apotheken war früher eher rudimentär. Dies hat sich seit 2004 gravierend verändert: Freiverkäufliche Arzneimittel durften nach 2004 nicht mehr zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse auf Rezept verordnet werden – ein Markt mit ca. 3,6 Milliarden Euro Umsatz mit rezeptfreien Medikamenten, so genannte OTC-Arzneimittel (over-the-counter), drohte einzubrechen. Parallel wurden günstigere Generika-Präparate (lizenzfreie Kopien der Original-Präparate) verordnet. Um Umsatz- und Ertragseinbußen kompensieren zu können, investieren Apotheken und Hersteller nach 2004 in Beratung.“
Der Arzt ist also nicht mehr der wichtigste Influencer im Gesundheitsmarkt?
"Neben dem Arzt spielen inzwischen die PTA/PKA (Pharmazeutisch Technische Assistentin, Pharmazeutisch Kaufmännische Assistentin; Apothekenangestellte) eine immer bedeutendere Rolle im Gesundheitsmarkt. Zum einen wächst der Bedarf an Beratung stetig, zum anderen fehlt aufgrund überfüllter Wartezimmer die Zeit, ausführliche Arzt-Beratung zu erhalten. Diese Lücke füllt die PTA/PKA."
Sind das die Influencer der Zukunft im Pharmabereich? Wie setzt man sie als Werbungtreibender ein?
"Mit einer Größe von 100.000 Angestellten in Apotheken zählen die PTA/PKA zahlenmäßig neben dem Arzt zu einer der größten Influencer-Gruppen bundesweit. Sie führen pro Jahr ca. 100 Mio. Beratungsgespräche in Apotheken durch und verkaufen allein ca. eine Milliarde Packungen OTC-Arzneimittel und Kosmetika. Der Fokus der OTC-Hersteller liegt aus diesem Grund seit Jahren auf den PTA/PKA. Parallel beraten PTA Patienten, ca. 10 Milliarden Packungen rezeptpflichtiger Arzneimittel pro Jahr richtig einzunehmen. Denn eine richtige Beratung zur Einnahme und Produktanwendung eines Arzneimittels führt bekanntlich zur erhöhten Compliance, geringerem Therapieabbruch und letztlich niedrigeren Folgekosten.
Aber: Hersteller von rezeptpflichtigen Arzneimitteln oder Medizinprodukten haben die PTA/PKA im Grunde noch gar nicht als Influencer entdeckt - obwohl sie seit einigen Jahren zu den wichtigsten Influencern im Gesundheitsmarkt zählen."
Wie nähert man sich dieser Zielgruppe?
"Leider nicht ganz einfach, da der Apothekenleiter der zentrale Ansprechpartner der Industrie ist. Im Austausch mit ihm geht es primär um Listung, Rabatte, Wareneinkauf und Platzierung. Der Knackpunkt ist jedoch, dass keine PTA/PKA ein Produkt empfiehlt oder verkauft, von dem sie nicht 100-prozentig überzeugt ist. Aus diesem Grund bestimmen heutzutage PTA/PKA primär das OTC-Sortiment einer modernen Apotheke.
Um Hersteller zu unterstützen, dass PTA/PKA nachhaltig Produkte empfehlen, haben wir einen neuen Ansatz gewählt: Schaffung einer eigenen Apotheken-Team-Community u.a. mit Lifestyle-Themen, die die PTA/PKA-Influencer auch privat ansprechen."
Was heißt das konkret?
"Noch 2004 lag das Heil darin, OTC-Produktschulungen vor Ort in Apotheken mit PTA-Referentinnen durchzuführen - zumindest für den, der es sich leisten konnte. Um Produkte nachhaltig im Relevant Set zu verankern, reicht jedoch eine einzige Schulung nicht aus. Eine Inflation der Produktschulungen begann. Inzwischen ist die Bereitschaft des Apothekers deutlich gesunken, sein Personal hierfür im laufenden Betrieb freizustellen.
Aus diesem Grund haben wir folgendes geändert: Vor einem Jahr launchten wir die übergeordnete, neutrale, geschlossene PTA/PKA-Community Amira-Welt: eine moderne Apotheken-Community mit inzwischen über 13.000 Mitgliedern innerhalb eines Jahres.
AMIRA-Welt bietet aktuelle Fach-Nachrichten, News zu Lifestyle, Reisen, Chat-, Kommentar-Funktionen, Vernetzung mit gleichgesinnten, Kennenlernen neuer Produkte, mit integrierten Lern- und Schulungsplattform, Hintergrundinformationen und Feedback-Funktion, Marktforschung, Wettbewerbe und Incentives - all dies entspricht dem Wunsch dieser Zielgruppe sich auszutauschen und sich zu vernetzen. Parallel stärken wiederkehrende Impulse das Vertrauen und die Empfehlungsbereitschaft der im Fokus stehenden Produkte.
Das Lifestyle-Gefühl aus der Community findet auch im realen Leben statt: Über eine kostenlose AMIRA-Box erhalten parallel PTA/PKA alle 3 Monate vier bis sechs Apotheken-Produkte in Originalgröße zum Testen, Austauschen und Feedback geben nach Hause; ein AMIRA-Magazin und Geschenke liegen ebenfalls wertschätzend der Box bei. Uns war es ganz wichtig, dass diese Box hochwertig ist, ein schönes und ansprechendes Design hat - die Zielpersonen sollen sich richtig freuen, eine solche Box zu erhalten. Und darüber reden. So begleiten Incentives jede Interaktion, Lernen macht wieder Spaß, Informationen liest man gerne, man tauscht sich aus und die Gemeinschaft wächst. Auch Apotheker sind glücklich, denn das Lernen findet wieder nach der Arbeit statt und kostet nichts!
Aufgrund der kürzlich geschlossenen Kooperation mit dem Bundesverband der PTA (BVpta e.V.) und über Empfehlungen innerhalb der Gruppe, wird die AMIRA-Welt in den kommenden Jahren auf über 30.000 PTA/PKA-User anwachsen und ist bereits heute schon eine der größten Influencer-Gruppen im Gesundheitssystem.“
Haben Sie Wettbewerber?
„Es gibt Anbieter von Schulungsplattformen, auch einen Anbieter, der eine kostenlose Box an PTA verschickt, doch die dazugehörige Community ist unser USP: Spaß, News, Freude am Lernen, Incentives, hohe Interaktion, Vertiefung und Wiederholung des Erlernten mit Austausch, Dialog, Vernetzung und Multiplikation innerhalb der Gemeinschaft. Parallel braucht Lernen und Verstehen Zeit: ein 4-Wochen-Rhythmus, eine kleine Produktprobe oder ein einmaliger Impuls reichen nicht aus.
Aus diesem Grund verschickt AMIRA nur Original-OTC-Produkte und interagiert über 3 Monate intensiv mit den PTA/PKA exklusiv zum Produkt. Dies vertieft erlerntes Wissen, schafft Vertrauen und Nachhaltigkeit.“
Gibt es Zahlen, die nachweisen, wie die Boxen und Ihre Community funktionieren? Steigen z.B. die Umsätze und Absätze nach Teilnahme bei Ihnen?
„Wir selbst haben keinen Zugriff auf die Warenwirtschaftssysteme der Apotheken oder Hersteller. Da Hersteller jedoch nach Nutzung der AMIRA-Welt direkt „nachbuchen“ und parallel mehrere Indikationen für 2020 bereits exklusiv gebucht sind, gehen wir davon aus, dass diese neue Art der Kommunikation kosteneffizient und sehr erfolgreich ist.“
Harry Kuhlmann (l.) ist Co-Gründer der Amira-Welt, die er gemeinsam mit Mohammadi Akhabach (r.) führt.