Kommentar:
8 Argumente, die gegen die Mega-Marketing-Cloud sprechen
Mehr als 3000 Marketing-Software-Anbieter buhlen um die Gunst der Unternehmen. Sollen Sie sich für eine Allround-Lösung entscheiden oder lieber individuelle Pakete kaufen?
Für E-Commerce-Anbieter und andere Unternehmen sind die vielen Möglichkeiten, Daten über das Verhalten ihrer Kunden zu erfassen, Fluch und Segen gleichzeitig. Denn nun müssen sie die Aufgabe bewältigen, die Erkenntnisse miteinander zu verbinden: Welche Informationen liefern Marketing-Drittanbieter über meine Websitebesucher? Was interessiert die Kunden in meinem Online-Shop, sowohl am Desktop als auch mobil. Wo besteht Optimierungsbedarf? Wie sieht die Kaufhistorie bestehender Kunden aus und wie lassen sie sich mit neuen Angeboten zum wiederholten Kauf animieren? Selbst das Kundenverhalten im Ladengeschäft spielt für die Datenanalyse eine Rolle.
Um diesen Trends Rechnung zu tragen, suchen viele Unternehmen ihr technologisches Heil in einer Allround-Lösung, in der alle Daten zusammenlaufen und zentral analysiert und verarbeitet werden können: Von hier aus können sie Content erstellen und an den richtigen Stellen platzieren, Ad-Budgets verwalten und optimieren sowie den Endkundenkontakt rundum personalisieren. Zumindest sieht so die Idealvorstellung aus...
Aktuell liefern sich die großen US-amerikanischen Lösungsanbieter Übernahmeschlachten, um möglichst jedes für das Marketing relevante Geschäftsmodell in die eigene Marketing-Cloud zu integrieren. Ziel ist es, möglichst viele der anstehenden Investitionen in die digitale Transformation auf sich zu lenken und die Kunden rundum zu versorgen. Aber ist das überhaupt realistisch? Digitalmarketing-Experte Timo von Focht, der Erfahrungen bei Adobe gesammelt hat und nun Country Manager DACH bei TagCommander ist, zweifelt an den Heilsversprechen der großen Anbieter.
Das sind seine Argumente für kleine, vernetzte Lösungen:
1. Flexibilität in einer explodierenden Branche: Ständig bestimmen neue Tools und Hypes die Trends im digitalen Marketing: Die Zahl der Marketing-Technologie-Anbieter hat sich von 947 relevanten Marktteilnehmern 2014 auf 3874 im Jahr 2016 mehr als vervierfacht (Marketing Technology Landscape Supergraphic 2016). Bei so vielen Trends können auch Großanbieter nicht mithalten, sie decken nur einen kleinen Teil der Möglichkeiten ab. Zugekaufte Tools werden nur langsam integriert, in dieser Zeit finden oft keine Weiterentwicklungen der Lösungen statt, so dass der Anschluss an die Spitze nach und nach verloren geht.
2. Risikoverringerung: Wenn alle Lösungen aus einer Hand kommen, besteht die Gefahr, dass genau die am dringendsten benötigte Lösung die Bedürfnisse des Kunden nicht 100-prozentig erfüllt. Mit Einzellösungen kann dieses Risiko verhindert werden.
3. Vertragsbindung und Akquise: Potenzielle Kunden haben bestehende (Langzeit)-Verträge mit anderen Anbietern, so dass eine Komplettlösung in den meisten Fällen gar nicht zur Debatte steht. Eventuelle Ausschreibungen werden in der Regel pro Einzel-Lösung gemacht, da für die verschiedenen Aufgabengebiete unterschiedliche Teams verantwortlich sind.
4. Kompetenz und Expertenwissen: Kleinere Anbieter bieten oft mehr Tiefe und Beratungs-Know-How als große Anbieter, da sie sich nur mit einem Thema auseinandersetzen. Auch fehlt es an kompetenten Fachkräften am Markt, die einen Überblick über alle Teillösungen einer Marketingcloud haben - sowohl beim Kunden als auch beim Anbieter. So bleibt die Großlösung oft nur Stückwerk und die versprochene Integration auf Knopfdruck eine Fata Morgana.
5. Hohe Kosten: Großanbieter müssen die Investitionskosten für die Integration von ihren Kunden wieder einspielen. Oftmals erhoffen sie sich beim Kunden ein Quasi-Monopol aufzubauen und den ihn mehr und mehr in ihrer Lösungswelt "einzusperren" (Vendor-Lock-in). Dahinter steckt das Kalkül, sich zum Listenpreis im Unternehmen ausbreiten. Kleinere Anbieter sind in der Preisgestaltung oft günstiger und - auch durch den hohen Wettbewerbsdruck - flexibler.
6. Überdimensionierte Tools: Viele der Lösungen sind für den einzelnen Kunden völlig überdimensioniert, das heißt, der Kunde zahlt für wesentlich mehr, als er eigentlich braucht und ermessen kann. Oft wird die Arbeit mit der Großlösung an einen Agenturpartner ausgegliedert, was weitere Kosten verursacht und zu einem Kontrollverlust über die eigenen Strategien führen kann.
7. Lange Integration: Die Integration einer neuen Lösung ist immer auch mit personellen Kompetenzen, Hierarchien, Arbeitsweisen etc. verbunden. Je größer die neue Lösung, desto mehr Change Management ist nötig, da die Veränderungen teilweise dramatisch sind. Im digitalen Business gleicht das einer Operation am offenen Herzen, bei technischen Fehlern kann es zum kompletten Stillstand der Marketingaktivitäten kommen, was große Umsatzeinbußen nach sich zieht. Die Kosten und Risiken sind enorm und können von vielen Kunden nicht gestemmt werden.
8. Datenschutzkonformität: Die meisten Großanbieter haben bislang ihre Infrastruktur in den USA oder UK und sind daher für Einkäufer und Datenschützer aus Compliance-Sicht aufgrund der neuen EU-Datenschutzverordnung und dem diesjährigen Safe-Harbour-Urteil zu unsicher und damit keine Option.
Stattdessen plädiert von Focht für kleine Lösungen, die sich mithilfe von Tag- und Customer-Data-Management-Systemen verbinden lassen. "Damit ist die technische Infrastruktur an Lösungsanbietern ohne großen Aufwand flexibel erweiter- und anpassbar. Die gewonnenen Daten belegen, wie viel ein Kanal wirklich zum Erfolg einer Kampagne beisteuert - auch ohne die ganze Firmenstruktur umzuwälzen", sagt von Focht.