Dornröschen-Schlaf :
Digitalisierung: Leuchttürme statt echtem Fortschritt
Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien wurden große Fortschritte bei der Digitalisierung in Aussicht gestellt. Die konkreten Schritte fallen jedoch wie befürchtet deutlich kleiner aus.
Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa. Im europäischen Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft steht die Bundesrepublik aber nur auf Platz 13 – unter 27 EU-Mitgliedstaaten. Das soll sich mit der am Mittwoch im Bundeskabinett verabschiedeten Digitalstrategie nun endlich ändern. Verkehrsminister Volker Wissing, der im Bundeskabinett auch die Digitalthemen koordiniert, hat dabei allerdings ein Ziel formuliert, das vielen Kritikern als nicht besonders ambitioniert erscheint.
Deutschland soll zumindest in die Top-Ten in Europa aufsteigen. "Das muss der Anspruch unseres Landes sein", sagte Wissing. Dies sei bereits eine Herkulesaufgabe, für die so schnell wie möglich ein Aufholen notwendig sei. "Deswegen dürfen wir nicht träumen von Flugtaxis, mit denen wir alle durch die Gegend fliegen. Das ist alles eine schöne Vision. Aber Träumen ist das eine, Machen und Umsetzen ist das andere." Für ihr öffentliches Eintreten für Flugtaxis hatte Wissings Vorgängerin als Digitalexpertin der Bundesregierung, Dorothee Bär (CSU), 2019 in sozialen Medien Spott einstecken müssen.
Glasfaser für alle? Noch lange nicht
Um die einzelnen Schritte zur besseren Digitalisierung Deutschlands konkret herauszuarbeiten, hat Wissing aus jedem Ressort "Leuchtturmprojekte" einsammeln lassen, die noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden sollen. 52 Seiten sind so immerhin zusammengekommen. Eine der wichtigsten Aufgaben hat sich das koordinierende Digitalministerium selbst vorgenommen: Bis 2025 soll immerhin die Hälfte der Haushalte und Unternehmen in Deutschland mit Glasfaseranschlüssen versorgt werden. Außerdem verspricht das Papier bis 2026 "unterbrechungsfreie drahtlose Sprach- und Datendienste" für alle Nutzer - und zwar "flächendeckend".
Das zweitwichtigste Leuchtturm-Projekt wird von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verantwortet. Ihr Ministerium soll dafür sorgen, dass der Staat den Bürgerinnen und Bürgern sichere digitale Identitäten zur Verfügung stellt, damit sie viele Verwaltungsvorgänge online erledigen können - etwa die Anmeldung eines Kraftfahrzeuges.
Videoident-Verfahren nicht sicher
Wie wichtig eine verlässliche digitale ID-Lösung ist, hatte sich zuletzt bei der elektronischen Patientenakte (ePA) gezeigt, die schon vor einem Jahr eingeführt wurde. Hacker des Chaos Computer Clubs hatten vor gut zwei Wochen demonstriert, wie die bei der ePA verwendete Identifizierungsmethode Videoident unter bestimmten Rahmenbedingungen gehackt werden kann. Die für die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland zuständige Gematik GmbH reagierte sofort und untersagte den Krankenkassen vorläufig die Nutzung von Videoident-Verfahren.
Dabei gibt es seit Jahren mit dem elektronischen Personalausweis eine sichere Alternative. Doch diese wird kaum genutzt, auch weil die ehemalige schwarz-rote Bundesregierung daran gescheitert war, den "E-Perso" sicher in Smartphones zu integrieren. In der Digitalstrategie heißt es nun, man wolle sich 2025 daran messen lassen, ob "Personalausweis und der Führerschein auch als digitale Nachweise zur Nutzung mit mobilen Endgeräten verfügbar sind".
Vielleicht kann durch eine sichere ID-Lösung auch die elektronische Patientenakte aus dem Dornröschen-Schlaf aufgeweckt werden. Bislang benutzt kaum einer der über 70 Millionen Mitglieder einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) das System. "Wir wollen uns 2025 daran messen lassen, ob mindestens 80 Prozent der GKV-Versicherten über eine elektronische Patientenakte verfügen und das E-Rezept als Standard in der Arzneimittelversorgung etabliert ist", heißt es in der Digitalstrategie. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat sich aber nicht darauf festnageln lassen, wie viele Versicherten die ePA tatsächlich auch nutzen werden, um bei Befunden, Arztbriefen und Laborergebnissen den Überblick zu behalten.
Das Open-Data-Konzept
Zu den Leuchtturmprojekten gehört auch das Open-Data-Konzept, dass von allen Ministerien verfolgt werden soll. Die Behörden sollen Verwaltungs- und Forschungsdaten zur Verfügung stellen, damit sie von Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und der Verwaltung selbst besser genutzt werden können. Davon könnten Unternehmen profitieren, die beispielsweise Daten des Deutschen Wetterdienstes kommerziell verwenden, um die Landwirtschaft zu fördern. Auch die Klimaforschung soll einen Anschub bekommen. Im kommenden Jahr soll ein Portal online gehen, auf dem Umweltinformationen aus rund 300 unterschiedlichen Quellen zur Verfügung stehen.
Eine wichtige Frage beantwortet das in Meseberg diskutierte Papier aber nicht, nämlich die Finanzierung: Zwar wird das im Koalitionsvertrag vorgesehene Digitalbudget zur Umsetzung zentraler Vorhaben erwähnt. Es soll von Finanz- und Digitalisierungsministerium in enger Abstimmung mit dem Bundeskanzleramt erarbeitet werden. Doch welche Summe hier zur Verfügung stehen wird, blieb auch am Mittwoch unklar. Daher muss befürchtet werden, dass mancher Digitalisierungs-Leuchtturm niemals leuchten wird, weil die notwendigen Finanzmittel in Zeiten knapper Kassen nicht vorhanden waren. (Christoph Dernbach, dpa/st)