Interview:
"Die Experience hängt von der Erwartung ab"
Die Customer Experience ist das Ergebnis aus Episoden, die ein Kunde mit dem Unternehmen hat. Diese sind für die einzelnen Verbraucher aber unterschiedlich wichtig. Experience One-Chef Kai Müller im Interview.
Herr Müller, eine gute Customer Experience heißt, dass das Erlebnis an jedem einzelnen Touchpoint stimmt. Aber wie schafft man es, sein Budget dabei nicht per Gießkanne zu verteilen – sondern gezielt so einzusetzen, dass nichts davon verpufft?
"Tatsächlich ist weder jeder Touchpoint gleich wichtig, noch die Customer Experience durch eine reine Betrachtung nach Touchpoints gut zu greifen. Vielmehr setzt sich die Customer Experience aus vielen einzelnen Erlebnissen – Experience Episodes – zusammen. Eine Experience Episode ist ein Interaktionszyklus, der mit dem Ausdruck eines Bedürfnisses beginnt und mit der Befriedigung dieses Bedürfnisses endet. Bei einem Bankkunden könnte dies beispielsweise das Bedürfnis nach dem Abheben von Bargeld sein oder das Tätigen einer Investition. Ob die Experience Episode als gut oder schlecht bewertet wird, hängt davon ab, wie sich das Erlebnis zur Erwartungshaltung des Kunden verhält. Erfüllt ein Unternehmen die Erwartung, kann es eine zufriedenstellende Experience schaffen, wenn es sie übertrifft, eine gute und wenn es noch einen drauf legt sogar eine großartige. Dafür müssen Unternehmen aber zuerst die Bedürfnisse und die Erwartungshaltung ihrer Kunden genau kennen und überprüfen, wie gut sie diese bereits bedienen. Das ist nicht nur wichtig, um sich wirklich kundenzentriert aufzustellen, sondern auch um zu verstehen, wo genau man optimieren muss. Setzt man dann CX-Tools mit dem Blick auf Experience Episodes gezielt ein, gewinnen sie enorm an Schlagkraft und generieren einen spürbaren Impact für Kunden, z. B. die Peak-End-Rule. Priorisieren sollte man die Maßnahmen einerseits nach akutem Handlungsbedarf, wenn Erwartungen verfehlt werden, und andererseits nach der Bedeutung und Häufigkeit von Bedürfnissen für Kunden und deren aktueller Performance. Mein Rat: Zuerst die Experience Episodes identifizieren, die aus der Sicht des Kunden besonders wichtig sind und wo sie die Erwartungshaltung ihrer Kunden noch nicht erfüllen. Und dann diese zielgerichtet mit den geeigneten CX-Mitteln optimieren. Dann verpufft gar nichts."
Was ist denn eigentlich – aus Kundensicht – besser: Viele oder wenige Touchpoints? Was heißt das für Marketingverantwortliche?
"Einmal ganz einfach aus Kundensicht gesprochen: Niemand möchte einen Touchpoint haben oder sich möglichst lange in einer Customer Journey aufhalten. Die meisten Menschen möchten Bedürfnisse befriedigen, Zeit sparen, sich weiterentwickeln usw. Die Frage ist also vielmehr: Wie kann man auf die wesentlichen Kontaktpunkte reduzieren und dabei die Erwartungshaltung der Kunden übertreffen und eine sehr gute Experience liefern? Haben Sie sich schon mal gefragt, warum Sie nicht gleich beim Buchen eines Fluges auch eingecheckt werden? Das liegt unter anderem am Auslastungsmanagement und daran, dass Fluggesellschaften Ihnen beim zusätzlichen Touchpoint des Check-ins gerne weitere Upgrades verkaufen wollen. Diese Aspekte zahlen aber gar nicht auf ein Kundenbedürfnis ein. Deswegen sollten sich Fluggesellschaften fragen, ob sie diesen Zweck nicht auch anders erfüllen oder wie sie einen Mehrwert stiften und etwas für eine gute Customer Experience beitragen können."
Was macht das Kundenerlebnis insgesamt aus? Wie kann man das im CX-Management für sich nutzen?
"Dass ich bei den entscheidenden Experience Episodes die Erwartungshaltung übertreffe und somit für ein positives Erlebnis sorge. Wer sich darauf fokussiert, die wesentlichen Episoden zu erkennen sowie zu verbessern und sich kontinuierlich mit Kundenbedürfnissen auseinandersetzt, der ist wirklich customer-centric und hat die Grundlagen für CX Strategy und Management gelegt. Wir sehen oft, dass sich Unternehmen bei der Optimierung der Customer Journey End-to-End in Details verlieren oder an der Oberfläche bleiben und der echte Impact für Kunden ausbleibt. Eine Beobachtung ist, dass viele Unternehmen einzelne Touchpoints bearbeiten, ohne sie in den Kontext des Kundenbedürfnisses und der Experience Episodes zu heben. Auch hier ist der Fokus auf die Experience Episodes der Schlüssel zum Erfolg: Die erfolgreichsten Firmen bilden rund um die wesentlichen Episoden Purpose-Teams, die abteilungs- und bereichsübergreifend zusammenarbeiten, um sie ganzheitlich zu bearbeiten – von der User Experience über die datengetriebene Personalisierung bis zur Integration in Unternehmensprozesse und -systeme."
Letztlich gelingt keine gute Kundenerfahrung, ohne dass das Unternehmen genau weiß, was sich die Kunden wünschen. Die Grundlage dafür sind Daten – aber welche, und welche Hürden gibt es dabei noch in den Unternehmen?
"Die Kunst ist es, aus der Menge an verfügbaren Daten die richtigen herauszufiltern und nutzbar zu machen. Wenn wir uns wieder über das Kundenbedürfnis nähern und die entsprechende Experience Episode gestalten, wird deutlicher, welche Daten man analysieren, auswerten und gewinnbringend einsetzen kann. Nehmen wir als Beispiel das Kundenbedürfnis 'Neue Musik entdecken' bei Spotify. Dafür wertet ein eigenes Purpose-Team bei Spotify Kunden- und Nutzungsdaten sinnvoll aus und designt einen neuen Service: die 'Mixed Tapes'."
Wie gelingt es, Customer Centricity wirklich als Teil der Strategie zu implementieren?
"Ich glaube, dass ein Unternehmen vor allem eine eindeutige Haltung entwickeln muss, für welche Customer Experience man stehen möchte. Wie wird das Markenversprechen in die Customer Experience übersetzt? Welche Experience Episodes werden Kunden hinterher genau mit diesen Markenwerten verbinden und sagen: 'Stimmt, so einen Check-in Prozess hätte ich nur hier erwartet!' Die einfachste Formel für Customer Centricity ist, dass alle Mitarbeiter eine Haltung zur Customer Experience entwickelt haben und verstehen, welche Rolle sie im Unternehmen spielt und wie jeder einzelne positiven Einfluss nehmen kann. Dabei sind Top-Down-Commitment und -Haltung genauso wichtig wie der Freiraum und die Lernumgebung für alle Mitarbeiter. Dafür müssen auch Informationen über Ebenen und Bereiche hinweg fließen, damit Erkenntnisse zum Beispiel aus dem Kundenservice für strategische Entscheidungen nutzbar werden.