Von #Aufschrei bis #MeToo:
Sexismusdebatte sollte keine Promis brauchen
Mit dem "Herrenwitz" und #Aufschrei ging es vor fünf Jahren los, heute sorgt #MeToo für neue Aufmerksamkeit für die Sexismusdebatte. Die noch nicht beendet ist.
Am 24. Januar 2013 veröffentlichte das Magazin Stern ein Porträt der Journalistin Laura Himmelreich über den FDP-Politiker Rainer Brüderle. Der Text mit dem Titel "Der Herrenwitz" begann mit den Worten: "Für mich ist es nicht immer angenehm, 29 Jahre alt zu sein, eine Frau und Politikjournalistin. Das liegt an Männern wie Rainer Brüderle, der neuen, nun ja, Lichtgestalt der FDP." Im Text ging es um anzügliche Bemerkungen und unangemessenes Verhalten des Politikers. Kurz zuvor hatte Annett Meiritz im "Spiegel" über Frauenfeindlichkeit in der Piratenpartei geschrieben.
Und als Frauen begannen, im Netz ihre Sexismuserfahrungen zu teilen, schlug Medienberaterin Anne Wizorek auf Twitter einen Sammelhashtag dafür vor. Die #Aufschrei-Debatte war geboren und warf ein Schlaglicht auf Alltagssexismus und sexuelle Belästigung.
"Aufschrei wurde damals von dem Gefühl getragen, das junge Frauen hatten, nachdem sie ins Berufsleben gestartet sind", erklärt Himmelreich, heute Chefin der deutschen Onlineausgabe des Magazins Vice. Die Frauen, die die Debatte angestoßen hätten, seien alle Ende 20, Anfang 30 gewesen - und im dem Gefühl aufgewachsen, gleichberechtigt zu sein. "Und dann kamen sie ins Berufsleben und stellten fest: Ich werde hier anders behandelt als Männer. Und ich finde es unangenehm."
Die Debatte über Sexismus ist heute so präsent wie wohl selten zuvor, mit einem neuen Hashtag: #MeToo - ich auch. #Aufschrei ist in der Genderdebatte so etwas wie die ältere Schwester von #MeToo, wenn auch viel kleiner. Denn damals ging der Aufschrei hauptsächlich durch Deutschland, #MeToo kam in seiner jetzigen Form aus Hollywood und ist mittlerweile riesig.
"Die bloße Tatsache, dass unzählige Frauen sagen: 'Wir haben ein Problem', würde reichen", sagt Himmelreich. Aber offensichtlich bekomme das Thema nur größere Aufmerksamkeit, wenn solche Debatten ein Gesicht bekommen. "Wir wissen, dass es eine große Zahl von Frauen mit Erfahrung mit Sexismus gibt. Trotzdem entsteht erst ein breiter öffentlicher Diskurs, wenn ein bekannter Name fällt.
MeToo verdankt die große Aufmerksamkeit nicht nur den prominenten Beschuldigten, sondern auch der Tatsache, dass bekannte US-Schauspielerinnen den Hashtag nutzten. Viele von ihnen erhoben schwere Anschuldigungen gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein. Der bestreitet die Vorwürfe sexueller Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung. Zahlreiche prominente Namen sind in den USA hinzugekommen - aus der Filmbranche, Modefotografie, Politik.
Deutschlands Weinsteins?
In Deutschland gab es ebenfalls MeToo-Geschichten - aber keine Namen. Bis vor wenigen Tagen: Dieter Wedel. Der Regisseur war am Montag als Intendant der Hersfelder Festspiele zurückgetreten. Damit ist Wedel der erste deutsche Star, für den sich ernsthafte Konsequenzen aus der #MeToo-Debatte ergeben. Im Zeit-Magazin hatten zuvor mehrere Schauspielerinnen schwere Anschuldigungen bis hin zu erzwungenem Sex gegen Wedel erhoben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen ihn. Wedel bestreitet die Vorwürfe.
Die Schauspielerin Eva Mattes unterstützt die im Filmgeschäft geführte Debatte. "#MeToo steht für Machtmissbrauch", sagte die frühere Tatort-Kommissarin den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Daher betreffe die "#MeToo-Debatte nicht nur das Filmgeschäft, sondern fast jede Branche". Sie wisse von Übergriffen im deutschen Filmgeschäft. Ein weiteres Problem sei das fehlende Rollenangebot für ältere Schauspielerinnen.
Es gibt auch Kritik an der Debatte. Manche sprechen von einer Hexenjagd. Warum kommen die erst jetzt damit - sprechen 20 Jahre später über ihre angeblichen Erfahrungen, fragen andere Skeptiker mit Blick auf die Filmindustrie. "Wer das den Frauen vorwirft, versteht nicht, in welchen Nöten viele in der Filmbranche stecken", sagt Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. "Das klebt an ihnen, wenn sie sexuelle Belästigung zum Thema machen." Auf Rollen seien sie weiterhin angewiesen - eine sehr schwierige Situation. Generell sei sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ein großes Problem - denn viele Betroffene hätten Angst, wüssten oft gar nicht, an wen sie sich wenden sollen.
Aufschrei, MeToo - was nun?
Nicht nur in der Filmbranche ist das so. Auch in der Werbung. In den Medien. Aber offene Anklagen wurden bislang keine bekannt. MeToo hierzulande liefert Erfahrungen von Frauen und Männern mit sexuellem Machtmissbrauch - und dazu viel Solidarität, aber auch Spott und Unverständnis mit dem Tenor "Darf man nun keine Komplimente mehr machen ...?". Branchen-Einblicke wie den von Hannah Fricke gab es kaum.
Sexismus gibt es, fünf Jahre nach Aufschrei und knapp 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland, immer noch, das zeigt die aktuelle Debatte. "Jede Form von Diskriminierung, die in der Öffentlichkeit diskutiert wird, sensibilisiert und klärt auf", sagt Lüders. Sie sieht erfreuliche Entwicklungen wie etwa die Verschärfungen im Sexualstrafrecht - auch wenn sich nicht festmachen ließe, ob das nun auf die Aufschrei-Debatte zurückzuführen zu sei.
Auch Himmelreich betont: "Damals haben wir in allen Talkshows darüber gesprochen: Haben wir überhaupt ein Sexismus-Problem?" Heute sei es absoluter Konsens, dass es ein Problem gebe. "Ich freue mich für jede Frau, die es in einer unangenehmen Situation schafft, den richtigen Spruch zur richtigen Zeit zu bringen", sagt sie. Sie würde aber lieber in einer Welt leben, in der Frauen das gar nicht nötig hätten. (dpa/sh)