Thomas Kochs Kolumne "Mr. Media":
Wenn Marketing zum Monster mutiert
Die heftigste Abrechnung mit Adtech, die man ja erlebt hat, gibt's jetzt auch auf Deutsch: Thomas Koch dokumentiert die furiose Rede von Bob Hoffman vor Werbekunden in Kanada.
Bob Hoffman ist ein amerikanisches Werbe-Urgestein, Autor ("Marketers Are From Mars Consumers Are From New Jersey"), wortgewaltiger Branchenkritiker und gefragter Redner. Kürzlich hielt er in Toronto eine Impulsrede auf der Konferenz der World Federation of Advertisers. Es wurde die wohl heftigste Abrechnung mit Adtech, die man je erlebte. Bob hat mir erlaubt, seine Rede in Auszügen zu übersetzen, so dass sie auch für deutsche Leser zugänglich ist. Ich würde jedem, der weiterliest, allerdings empfehlen sich anzuschnallen…
"Hi, ich heiße Bob. Ich bin Copywriter. Ich verstehe nicht viel von Technologie. Ich weiß auch nicht viel über Software und Media, aber mit Bullshit kenne ich mich ein bisschen aus.
Ich glaube, es haben sich ein Haufen Software-Menschen und einige globale Agentur-Menschen zusammengetan, um uns einen Haufen gefährlichen Bullshits zu verkaufen. Sie nennen es Adtech.
Vorweg: Ich glaube, dass die meisten Menschen, die in Werbung und Marketing arbeiten, anständige Leute sind. Sie arbeiten hart und meinen es gut. Wir wollen unseren Kunden und ihren Marken zum Erfolg verhelfen. Wenn uns bewusst würde, dass unser Handeln schädlich wäre für Konsumenten, unsere Industrie oder erst recht für die ganze Gesellschaft, besäßen wir die Integrität, es zumindest zu überprüfen.
Das, so leid es mir tut, ist genau die Situation, in der wir uns befinden.
Es fällt schwer sich vorzustellen, dass die Technologie, die wir nutzen, um digitale Anzeigen auszuliefern, sich in ein Monster verwandelt hat. Das war nicht unsere Absicht. Aber Hand aufs Herz: Adtech - so wie wir es praktizieren - ist zu einer Plage geworden.
Gesteuert wird alles vom Tracking, was nur ein netteres Wort für Überwachung ist, und es mutierte zu allerlei gefährlichem Unfug: Es untergräbt das öffentliche Ansehen unserer Industrie. Es hat Korruption und Betrug Tür und Tor geöffnet. Es überstellt unsere intimsten Daten in die Hände von Kriminellen, Regierungen und anderen, potentiellen Übeltätern. Es hat die legitime Arbeit von Online-Medien abgewertet, Nachrichtenmedien und den ganzen Journalismus geschwächt.
Marketing traut dem Ganzen nicht. Und die Öffentlichkeit hasst es. Aber davon einmal abgesehen, ist es fucking großartig.
Hier einige data-driven Fakten dazu: Mittlerweile sind mehr als 600 Millionen Adblocker weltweit installiert. Für Doc Searls ("The Intention Economy") ist das der größte Boykott in der Geschichte der Menschheit.
90 Prozent der hier Anwesenden werden in diesem Jahr ihr Verhältnis zu Programmatic überprüfen. Einen größeren Beweis für Misstrauen kann ich mir nicht vorstellen. Von den Milliarden Dollar, die via Adtech transferiert werden, landen 60 Prozent bei Adtech-Mittelsmännern.
Adtech lenkt das Geld auf Seiten mit der geringsten Qualität. In der Folge kämpfen die Qualitätsseiten um ihre Existenz. Der Rest des Geldes wandert zu Facebook und Google, wo einige Marketingleute einen sicheren Hafen vermuten. In Wirklichkeit sind die Beiden ein arrogantes Duopol, das sich weigert, die allgemeinen Industriestandards nach Offenheit und Transparenz einzuhalten.
Und was hat uns Adtech gebracht? Eine Klickrate von 6 aus 10.000. Fake News und Click-baiting. Und natürlich Ad Fraud, den Online-Betrug, die inzwischen wohl zweitgrößte Quelle organisierter Kriminalität. Zu guter Letzt hat sich alles, was uns die Adtech-Industrie über Datenschutz und Sicherheit erzählte, als komplette Scheiße erwiesen. Diese Leute sind inkompetent, unverantwortlich und gefährlich.
So wie sich Adtech heute darstellt, brauchen wir es nicht. Wir können Werbung besser und erfolgreicher ohne die Öffentlichkeit zu bespitzeln, unsere Glaubwürdigkeit zu ruinieren, Kriminelle zu bereichern, unsere Qualitätsmedien in Frage zu stellen und unsere Freiheit zu gefährden.
Wir haben hier ein sehr klares Chance-Risiko-Verhältnis vor uns. Die Chancen, die Adtech bieten, sind - wenn überhaupt - bisher gering. Die Risiken dagegen sind gewaltig.
Warum nochmal gibt es 600 Millionen Adblocker? Sie sind unsere einzige Verteidigung gegen eine Technologie, die zwar gutartig begann, aber sich nun in ein Monster verwandelt hat.
Ich danke Ihnen."
Den originalen Wortlaut von Bob Hoffman’s Rede finden Sie hier.
Der lautstarke Protest der Online-Jünger wird nicht lange auf sich warten lassen. Sollen sie nur. Wir brauchen Antworten. Selbst wenn nur die Hälfte dessen, was Bob Hoffman sagt, der Wahrheit entspricht, stehen wir vor einem Debakel, das die Werbebranche so noch nicht erlebt hat.
Es geht hier keinesfalls um populistisches Online-Bashing, sondern darum diese Technologie sinnvoll einzusetzen: Zum Wohle unserer Industrie, unserer Kunden und der Allgemeinheit. Diese "Allgemeinheit" übrigens, das sind die Menschen da draußen, ohne die wir alle nicht existieren würden. Oder einer mehr sinnstiftenden Arbeit nachgingen, als einige von uns es heute tun.
Wir brauchen dringend eine Diskussion über unsere Arbeit in einer zunehmend digitalisierten Welt. Über Marketing, Werbung und Media4.0. Die nächsten Wochen mit ihren unzähligen Konferenzen (re:publica, W&V Advertising Heroes, Adtrader Conference, Content Marketing Beats u.v.a.m) bieten dazu reichlich Gelegenheit.