Studie zum ARD-Krimi :
Warum Deutsche den "Tatort" so lieben
Professor Stefan Scherer kommt nach Analyse von 488 Folgen "Tatort" zu dem Ergebnis, dass die TV-Macher geschickt ans Seriengedächtnis appellieren.
Fast 900 Folgen "Tatort" gibt es bereits, die vertraute Titelmelodie, die eisblauen Augen und das Fadenkreuz im Vorspann begleiten den TV-Zuschauer seit über 40 Jahren unverändert. Aber warum sind so viele Deutsche der ARD-Krimireihe treu und warum finden sie die Produktion gut? Das hat sich ein Wissenschaftlerteam um den Karlsruher Literaturprofessor Stefan Scherer gefragt. Er kommt nach einer Analyse von 488 (!) Folgen zu dem Ergebnis, dass die TV-Macher des Ersten geschickt an das Seriengedächtnis der Zuschauer appellieren. Der "Tatort" bringt für sie ein Stück Geborgenheit ins Wohnzimmer. Die Folgen beziehen sich über die Sendergrenzen hinweg aufeinander, schauen voneinander ab und vernetzen sich miteinander. "So tauchen zum Beispiel 'Tatort'-Kommissare eines Senders bei Teams eines anderen Senders auf", meint Scherer, selbst seit Jahrzehnten begeisterter "Tatort"-Gucker. Auch Kameraeinstellungen ähneln sich, Ermittlerkonstellationen werden wiederholt; kinofilmartige Ästhetik zieht in den "Tatort" ein mit der Verpflichtung renommierter Regisseure wie Dominik Graf.
Hin und wieder versucht auch ein Sender, das "Tatort"-Team eines anderen Senders nachzuahmen - so geschehen etwa mit den Ermittlern Stellbrink und Marx aus Saarbrücken, die mit "absurder und völlig überdreht grotesker Komik" auf die Quotenkönige Thiel und Boerne aus Münster verweisen, wie es heißt. "Mit wenig Erfolg zwar, aber gerade solche Verweise prägen das 'Tatort'-Seriengedächtnis des Zuschauers", sagt Scherer. Kurzum: Der Zuschauer kuschelt sich auf dem vertrauten Sofa bereits gesehener Folgen ein und freut sich auf die nächste. Der "Tatort" verschränke das "Prinzip abgeschlossener Folgehandlungen mit Elementen der Fortsetzungsgeschichte", heißt ein Ergebnis der Forscher. Obwohl als 90-Minuten-Werk in sich abgeschlossen, appelliere der "Tatort" an das Seriengedächtnis der Zuschauer, die jeden Sonntag das Format wiedererkennen und sich geborgen fühlen. Und der Kult im TV reicht nicht mehr aus: Auch Websites zum Thema häufen sich. Der "Tatort" dominiert auch das Ranking der aufgezeichneten Sendungen.
Das liegt auch an den Themen. "Der 'Tatort' bildet das gesamte Leben der BRD ab", sagt Scherer. Einfach alles sei beleuchtet worden "von der Intersexualität über Rechtsextremismus bis hin zum Afghanistan-Einsatz". Nur um das Phänomen der Terrorfraktion RAF hätten sich die Sender herumgedrückt. Radikalität hat Scherer im "Tatort" indes nicht entdeckt. Entgegen der ursprünglichen Vermutung Scherers entwickeln sich die Figuren seiner Meinung nach nicht. Sie werden älter, die Geliebten oder Liebhaber wechseln, die Ehen plätschern dahin, die Kinder werden flügge. "Mehr ist nicht vorgesehen", sagt Scherer.
Stefan Scherer hat mit der Studie "Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe "Tatort"" nach eigenen Worten die bislang umfassendste Analyse über dieses Sendeformat vorgelegt, das gerade mit dem Münsteraner Team selten gewordene achtstellige Zuschauerzahlen stemmt. Finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) kümmerte er sich mit zwei Kollegen aus Göttingen drei Jahre lang um das Werk. Im September schlossen sie das Projekt ab, die Ergebnisse sollen in den nächsten Monaten im Detail veröffentlicht werden. "Mithilfe eines eigens entwickelten Analyserasters haben wir die Folgen durchsucht", erklärt er. Beleuchtet wurden die Standorte der Teams, Ermittlerlogiken, Ton- und Bildästhetik, Neben- und Haupthandlung, Rückblenden, Kamerabewegungen und und und. Zeitaufwand pro Folge: acht Stunden.
dpa/ps