Thomas Koch über Zielgruppen und Beratung:
Neulich in der Media-Hölle: "Haben ihr noch Fragen?"
Die Mediabranche ist auf dem Tiefpunkt angelangt, findet W&V-Kolumnist "Mr. Media" Thomas Koch. Und er hat starke Indizien für seine These.
Inzwischen dürfte auch den letzten Vertretern in den Chefetagen der Mediaagenturen klar sein, dass es so nicht weitergeht. Sie brauchen dringend neue Modelle, wenn sie die Zukunft meistern wollen: Neue Modelle für den Umgang mit Zielgruppen und Medien, neue Modelle für die Beratung ihrer Kunden - und neue Erlösmodelle, die nicht einzig auf Arbitrage, Intransparenz und Rabattklau aufbauen.
Da meldet sich Nicky Emery zu Wort. Er ist Global CEO von Mindshare. Die gehören zu Group M, sind aber irgendwie doch anders. Also lasse ich mich auf seinen sehr ausführlichen und langen Kommentar ("Wir brauchen eine Mediarevolution, die Neinsager widerlegt") ein. Ich lese ihn zweimal, bevor ich beschließe, nicht zu verstehen, was er uns eigentlich sagen will. Er fordert eine Revolution und prangert die Abhängigkeit von veralteten Modellen an. Ok, soweit kann ich folgen. Er hat also das Problem verstanden und will, dass seine Agentur das Jahr 2022 überlebt.
Doch dann erkennt er einen Missstand darin, dass Zielgruppen und Marketingkanäle Vorrang vor Content-Entwicklung haben müssten. Seine wichtigste Lektion daraus lautet: "Die Zielgruppe kommt an erster Stelle." Eine weitere Lösung besteht für ihn darin, das Zusammenwirken von Medien und Content neu zu definieren. Bevor er mich mit "Datenasymmetrien" und "iterativer Relevanz" gänzlich verliert, kommt er nach vielen Seiten Prosa zum Schluss: "Gemeinsam wollen wir die existenziellen Probleme lösen und eine Mediarevolution ins Rollen bringen, die die Zielgruppe an erste Stelle setzt und eine ausgewogene Balance zwischen Marke und Nachfrage-KPIs schafft."
Die Zielgruppe scheint Emery extrem wichtig zu sein. Das verwundert mich. Ich blicke zurück auf mein Mediaplaner-Dasein und frage mich, wann die Zielgruppe unwichtig geworden sein soll. Und wenn sie - soweit meine Erinnerung nicht trügt - immer wichtig war, warum wir dann eine Revolution brauchen, die sie an erste Stelle setzt? Ab wann Medialeute den Zielgruppen und Marketingkanälen zu wenig Priorität eingeräumt hätten? Wann wir plötzlich aufhörten, werbliche Inhalte den geeigneten Medien zuzuordnen?
Vielleicht habe ich ja auf meiner langen Strecke durch die Mediawelt irgendwann einen Meilenstein verpasst. Den Augenblick, als Mediaplaner die Zielgruppen verwarfen und sich anderen Themen zuwandten…
Emery meint etwas ganz anderes
Doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Emery meint gar nicht die Mediaplanung. In Wirklichkeit adressiert er mit seinem (vermutlich internen) Memo seine Chefs bei Group M. Denn sie sind es, die die Ziele ihrer Kunden, die Zielgruppen und Media-Kanäle aus den Augen verloren. Sie sahen nur noch sich selbst, ihre Einnahmen und Renditen und die KPIs, die sie erschufen, um ihren Kunden immer mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. So ergeben Emerys Forderungen plötzlich einen Sinn.
Das meint er mit "warum wir uns von veralteten Modellen verabschieden müssen". Das meint er mit "die KPIs müssen sich an Marke und Nachfrage ausrichten". Jetzt hat er mich wieder. Jetzt verstehe ich endlich, was der Mann will. Nun kann ich ihm auch Recht geben. Wenn sich die Mediaagenturen nicht von ihrem veralteten Erlösmodell trennen, werden sie das Jahr 2022 nicht erleben.
"Echte" Mediaplaner gesucht
Die Revolution, die Emery meint, ist quasi ein Rückschritt in die Zeiten, als dem Mediaplaner die Ziele seiner Kunden und die Bedürfnisse seiner Zielgruppen heilig waren. Das Problem ist nur, dass die Agenturen ihre Mitarbeiter über ein Jahrzehnt lang dazu weder ausgebildet noch angeleitet haben. Sie brauchen jetzt statt Vertriebler für ihre Agenturprodukte (was sie selbst anprangern) wieder richtige Mediaplaner. Ich sehe die Stellenanzeigen schon bildlich vor mir:
"Mindshare sucht echte Mediaplaner, die Zielgruppen und Medien bewerten und richtige Mediastrategien entwickeln können."
Szenenwechsel. Auf einer Insel treffen sich jedes Jahr zwölf Mediaexperten aus Unternehmen und Agenturen zum Gedankenaustausch. Seit nunmehr zehn Jahren gibt es diese "Inselgespräche". Fernab vom hustle and bustle ihrer Tagesarbeit reden sie über das, was die Branche bewegt, was sie braucht und suchen nach Lösungen. In diesem Jahr ging es dabei auch um die Zukunft der Mediaagenturen. Die Gesprächsgruppe war sich einig, dass sie im Kampf um die Vormachtstellung beim programmatischen Einkauf empfindlich gegen neue Wettbewerber verlieren werden. Dass die einzige Lösung nur sein kann: Mediaagenturen müssen wieder Berater ihrer Kunden werden. Sie müssen die unverzichtbaren Experten für mediastrategische Lösungen werden, die Adobe, IBM, Oracle, SAP & Co niemals sein können.
Haben ihr noch Fragen?
Noch einmal Szenenwechsel. Diesmal in die kalte und brutale Realität. Vor mir liegt die Mediaempfehlung einer sehr großen, renommierten, angeblich innovativen Mediaagentur zur Begutachtung. Sie präsentiert einen Mediaplan für einen ihrer Kunden und dessen neuer Kampagne. Richtig: Einen Mediaplan. Eine Strategie ist nicht zu erkennen, das Wort kommt nicht einmal vor. Ohne auf den hohen Wettbewerbsdruck einzugehen, schlägt sie einen TV-Einsatz mit unterirdisch geringen Wochen-Reichweiten vor, obwohl sie zuvor Reichweite zum Ziel erklärt hatte. Gleichzeitig betont sie die Wichtigkeit ausreichender Kontakte. Von einer durchdachten Strategie ist sie meilenweit entfernt.
Bei der anschließenden Printauswahl begnügt sich die Agentur mit der Zielgruppe "Frauen 20-49", obwohl die Mediaanalysen hinreichend Zielgruppenkonsumdaten hergeben. Eine Erklärung dafür fehlt. Die Rangreihen erinnern mich verdammt an Charts, die wir in den 70ern produzierten. Es ist ja auch der Planungsstandard von vor 40 Jahren.
Unterm Strich: Keine Strategie, keine Begründung, kein roter Faden. Die "Empfehlung" ist planlos, uninspiriert, ohne jegliches Engagement, die Charts von schlecht ausgebildeten, hilflosen Praktikanten zusammengeschustert. Das Planungsmodell ist völlig veraltet. Der Kunde bekommt einen "Friss oder stirb"-Mediaplan vorgesetzt. Von echter Beratung nicht die Spur. Der Agentur ist der Kampagnenerfolg offenbar völlig gleichgültig.
Auf dem letzten Chart dann die Worte: "Haben ihr noch Fragen?" Ernsthaft. (Dutzende Agenturchefs eilen jetzt hektisch an ihre Rechner…) Ja, werte Mediaagenturen, ich habe eine Frage. Ich habe sogar sehr viele Fragen. Ich beginne mal mit diesen sieben:
Wann beabsichtigt ihr, gut ausgebildete, strategisch geschulte Mediaplaner auf eure Kunden anzusetzen? Wann entwickelt ihr den Planungsstandard des vorigen Jahrhunderts weiter? Wann moderne Planungsmodelle, die die Wirklichkeit unseres Medienalltags wiederspiegeln? Wann begreift ihr endlich den Unterschied zwischen Mediaplan und Mediastrategie? Wann setzt ihr die Zielgruppe an die erste Stelle? Wann plant ihr, eure Kunden ernsthaft zu beraten? Wann wacht ihr auf?
Die Qualität der Mediaberatung und Mediaplanung in vielen deutschen Mediaagenturen ist auf einem nie dagewesenen, besorgniserregenden Tiefpunkt angekommen. Sie haben nicht verstanden, dass sie nur überleben, wenn sie ihren Kunden mediastrategische Expertise und Beratung liefern, die diesen Namen (und damit ein angemessenes Honorar) verdient. Die sie von Angeboten gegenwärtiger und künftiger Wettbewerber klar differenziert. Die sie auch in Zukunft zu einem unverzichtbaren Partner der werbungtreibenden Industrie macht.
Nick Emery liegt also doch falsch. Die Zielgruppe kommt erst an zweiter Stelle. Die Beratung an erster. Wenn die Mediaagenturen das nicht irgendwann begreifen, werden wir sehr bald auf ihr Mitwirken bei der Entwicklung erfolgreicher Kampagnen verzichten wollen und können.