Lesetipp:
Brillantes Schülerinterview mit Bild-Chef Reichelt
Der Bild-Chefredakteur lässt im Gespräch mit Schülern seiner früheren Schule tief blicken. Und die Schülerzeitungsredakteure empfehlen sich für Medienjobs.
Julian Reichelt ist seit diesem Jahr alleiniger Chefredakteur der Bild. Und Kritiker des Springer-Boulevardblattes nehmen seither einen noch härteren Kurs des Blattes wahr, selbst wenn ihnen dieser schon immer zu ruppig und zu konservativ gewesen sein mag. Medienschelte lässt Reichelt meist abperlen.
Die Redakteure des Gymnasiums, an dem Reichelt nach 14 Schuljahren einst 2000 sein Abitur gemacht hat, kommen aber recht nah heran an den Bild-Chef. Weil sie gut sind, weil sich Reichelt geschmeichelt fühlt - und vielleicht, weil Julian Reichelt, 38 Jahre alt, die jungen Kollegen nicht als vollwertige Journalisten sieht.
Doch die kritischen Redakteure von der Schülerzeitung GO Public des Gymnasiums Othmarschen in Hamburg machen einen exzellenten Job. Johann Aschenbrenner, Arvid Bachmann und Emma Brakel*) führten das Interview im Juni in Reichelts Büro in Berlin. Nun ist das Gespräch online - die Schülerzeitung gibt es eigentlich "nur im Print", schreibt auf W&V-Anfrage Johann Aschenbrenner. "Das Interview haben wir online gestellt, weil wir es einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen wollten."
Da trifft es auf reges Interesse, die Twitter- und Facebook-Gemeinde und ja, die meisten anscheinend keine Reichelt-Fans, verbreiten es seit heute Morgen eifrig. So dürfte sich die Website ab dem heutigen 15. November, an dem die Schüler ihr Reichelt-Interview samt Kommentar dazu online veröffentlichten, über enorme Klickzahlen freuen, die weit über die Reichweite der GO-Schüler und -Förderer hinausgehen dürften. Klickzahlen - gibt es aber keine, die Schüler haben ihr Meisterstück in der Gratisversion des Webseite-Baukastens Jimdo publiziert.
Wir erfahren, dass Reichelt Kette raucht, dass er keinen Schreibtisch hat, dass er schon mit 13 Bild-Chefredakteur werden wollte, dass er den Schülern seine Playstation anbietet, als er kurz raus muss - und dass er keine Zeitungen liest (das Bild links zeigt den Interviewausschnitt dazu).
Dafür spiele Bild in einer Liga mit New York Times und Washington Post. Den "qualitativ hochwertigen Journalismus", der Geld koste (und damit meint er durchaus den in Bild), verteidigt Reichelt als "wertvoll" in einer Welt, in der via Social Media "jeder behaupten kann, was er möchte, in der sich Falschmeldungen besser verbreiten als korrekte Meldungen, in der man es inzwischen mit einem hasserfüllten Diskussionsumfeld zu tun hat, was ich sehr abschreckend finde".
Als ihn das GO-Team daraufhin fragt, ob Bild Stimmung macht, verneint der Chefredakteur das. Und als es um Schlagzeilen wie "Machen Sie Abschiebung zur Chefsache, Frau Merkel!" oder "Islam-Rabatt" geht und die Schülerzeitungsreporter konkret werden: "Warum machen Sie auf diese Weise Stimmung gegen Flüchtlinge oder Muslime?" antwortet Reichelt mit einer unschuldigen Gegenfrage: "Wo machen wir denn Stimmung gegen Muslime oder Flüchtlinge?" Später sagt er dazu, er glaube nicht, dass eine Schlagzeile Stimmung mache. "Aber ich glaube, alle diese Schlagzeilen haben eine tiefe innere Wahrheit und Berechtigung."
Die hat er im Interview mit Aschenbrenner, Bachmann und Brakel schon ein bisschen weiter vorn erläutert. "Ich glaube", sagt er da, "die Stärke von Bild ist, dass die Menschen, die Bild lesen, sagen: 'So isses. Schön, dass ich mich da wiederfinde.' Und, dass Menschen, die sich gegenüber der Politik oft machtlos oder ohne Stimme fühlen, das Gefühl haben, sie haben eine Stimme."
Zusätzlicher Klicktipp: Aschenbrenner hat sich in einem Kommentar/einer Analyse zum Interview mit der "Inneren Wahrheit des Julian Reichelt" befasst. Und zwar genau mit der "gefühlten Wahrheit", die Bild-Schlagzeilen transportieren. Johann Aschenbrenner liefert Fakten, Einordnung und stellt die Tatsachen in Bezug zur Schlagzeile des "Islam-Rabatt". Aschenbrenner: "Was also bleibt von Julian Reichelts 'innerer Wahrheit'? Nicht mehr als ein Gefühl, das aber leider gar nicht wahr ist."
Das Fazit des Jungredakteurs:
Das ganze Interview lesen Sie hier.
*) Johann Aschenbrenner will Journalist werden und hat am Gymnasium Othmarschen im Sommer Abitur gemacht (und in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung Bilanz gezogen); Arvid Bachmann hat fotografiert; Emma Brakel gehört nicht nur der Schülerzeitung des GO an, sondern auch der Schülervertretung.