Kolumne "Mr. Media":
"Media? Kann im Prinzip jeder"
Mediaagenturen müssen aufpassen, dass sie sich nicht selbst abschaffen. W&V-Kolumnist Thomas Koch über einen Markt, der außer Kontrolle gerät.
Sieht ganz so aus, als stünden wir an einem Scheideweg. Mit "wir" sind die Mediaagenturen und Medialeute in diesem Land gemeint. Das Vertrauen ist zerstört, das Geschäftsmodell obsolet. Da ist die Frage berechtigt, wie unser geliebtes Metier in wenigen Jahren aussehen wird. Eine Antwort auf die Frage wäre mehr als wünschenswert - nicht nur für die geschundenen Protagonisten, sondern auch für Medien und Kunden. So als Orientierung auf dem Weg zu einem Modell, das man wieder als sinnstiftend bezeichnen könnte.
Was bisher geschah: Die Mediaagenturen haben sich von honorierten Beratern ihrer Kunden zu Inventar-Großhandlern mit eigener Handelsstufe entwickelt. Entwickelt ist falsch: Sie haben diesen Schritt forciert. Er spülte deutlich mehr Geld in die Kassen. Und die Kunden applaudierten dazu. Besser konnte es für die Agenturen nicht laufen.
Früher waren Mediaagenturchefs noch bemüht, ihre Agenturen gegen Wettbewerber zu positionieren und Kunden die bestmögliche Beratung angedeihen zu lassen. Längst haben sie sich jedoch zu Vertrieblern degradieren lassen, die im Auftrag ihrer Holdings die "margenstarken Konzernprodukte" (W&V: "Alles auf Group M") an die Kunden zu verkaufen haben. Weder hat das mit bestmöglicher Planung, noch mit dem für Kunden bestmöglichen Einkauf zu tun. Diejenigen, die ihre Kunden respektieren und keine Lust auf einen Vertriebsjob haben, verlassen die Dickschiffe. Es verbleiben die Konzernroboter.
Je lauter Kunden nach Transparenz riefen, desto geringer wurde sie. Das Kunden-Lieferanten-Verhältnis wird buchstäblich auf den Kopf gestellt - nein, geradezu ad absurdum geführt. Die Agenturen gefallen sich in ihrer vermeintlichen Rolle "alternativlos" zu sein und führen ihre Kunden am Nasenring durch die Werbearena. Der Kunde hat die Wahl zwischen Pest und Cholera.
An der Kundenfront regt sich dennoch Widerstand. Ein anonymer (sic!) Global Brand Media Manager gesteht: "It’s all one massive arbitrage system." Doch das kratzt in den Agenturen niemand. Dort heißt es business as usual. Die Einzigen, die im Arbitrage-System nichts zu melden haben, sind die Geldgeber, die Kunden. Selber schuld, möchte man sagen.
Media kann im Prinzip jeder
Statt sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren und diesen Job besser zu machen als jeder andere, wühlen sie in den Geschäftsfeldern der Wettbewerber. "Content und Kreation kann im Prinzip jeder" hallt es aus den Chefetagen der Mediaagenturen. Selbstverständlich beherrschen sie auch Influencer Marketing. Und wenn es zum Thema Big Data kommt, merken die Kunden nicht einmal, dass ihnen die Hoheit über ihre eigenen Transaktionsdaten entgleitet.
Man müsste den Agenturen ein uraltes Phänomen erläutern. Je mehr sie ihre ehemalige Kompetenz aufgeben, je mehr neue Felder sie beackern, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass neue Wettbewerber auf den Plan treten und behaupten: "Media? Kann im Prinzip jeder…"
Der Wahnsinn hat System
Besonders übel erweist sich die Situation bei Programmatic. Eine Studie des globalen Auditors Ebiquity fördert zutage, dass lediglich 40 Prozent der programmatisch ausgespielten Werbegelder beim Konsumenten ankommen. Der überwiegende Rest bleibt auf der Strecke. Diese Strecke trägt den sinnigen Namen "Wertschöpfungskette", bedient die Agenturen und sonstige Dienstleister und müsste die Kunden zum Wahnsinn treiben.
Doch Wahnsinn ist auf Kundenseite nicht so recht auszumachen. Im Gegenteil: Sie lassen zu, dass der Anteil von Programmatic immer weiter steigt - 2017 wird er hierzulande auf 45 Prozent klettern. Nur zur Erinnerung: Das im Herbst vom EMR vorgestellte Gutachten fällte über Programmatic ein geradezu drakonisches Urteil:
"Der Markt folgt hier einer Finanzmarktlogik, welche die Überprüfung der Details für den Einzelnen kaum noch möglich macht. Es werden hier zum Teil so viele Zwischenagenturen und Strohmänner eingeschaltet, dass wie beim Finanztrading die einzelnen Vertragsströme nicht mehr zu überblicken sind. Die Gefahr schiefer Mediapläne für die Werbungtreibenden … existiert hier dadurch in einer noch stärkeren Form, als dies im Rahmen von Rabatten und Trading der Fall ist."
Programmatic ist für die Agenturen ein verdammt gutes Geschäft. Nur leider nicht für die Kunden. Und leider auch keine gute Voraussetzung für den Kampagnenerfolg.
Missverstehen Sie mich nicht: Ich bin mir sehr wohl bewusst, an welcher Stelle Programmatic seine Vorzüge ausspielt. Dort nämlich, wo die automatische und individuelle Ansprache der Konsumenten etwas kann, wozu menschliche Mediaplaner nicht fähig wären. Hier bin ich ein großer Freund dieses faszinierenden Tools. Aber (ohne das Thema Brand Safety auch nur ansatzweise zu berühren) wie viel Programmatic ist gut für Marke und Kampagne?
Wenn ja, wie viele?
Hier kommen wir - bei Programmatic stellvertretend für jede andere Innovation, die uns die Digitalisierung beschert - zur Kernfrage, zu des Pudels Kern: "Wenn ja, wie viele?"
Welche Medien spielen für die Kommunikation und für die einzelne Kampagne welche Rolle? Brauchen wir TV oder Print? Welche Rolle spielen sie im Kommunikations-Mix? Welche Aufgabe haben sie zu erfüllen? Brauchen wir Online-Display? (Es hat noch nie! ein Medium gegeben, das - völlig gleichgültig welches Ziel verfolgt wird - eingesetzt werden muss.)
Braucht die Zielgruppenansprache Influencer? Welche Rolle kann Content (im professionell verstandenen Sinne) für das Erreichen der Marketingziele übernehmen? Besitzen wir genügend Haltung, um Content Marketing oder Social Media erfolgreich zu bespielen? Welchen Sinn macht Programmatic an welcher Stelle? Meinen wir damit Media oder Kreation oder beides?
Mehr Risiken als Chancen
Die Beantwortung dieser Fragen ist die wohl größte Herausforderung, der wir uns jemals stellen mussten. Hier liegen die wahren Chancen aber auch Risiken der Digitalisierung. Falsch eingesetzt, sind die Risiken für die Marke deutlich größer. Auf Kundenseite gibt es nur wenige, die dieses neue Marketing-Universum perfekt beherrschen. Das ist kein Vorwurf, haben sie sich doch in erster Linie mit dem Erfolg ihrer Marken und den berühmten "vier P" zu beschäftigen. Schon das ist heutzutage genug Herausforderung.
Hier kommen nun die Agenturen ins Spiel. Und das vielgerühmte Thema Orchestrierung. Dem Kundenmarketing ist schon geholfen, wenn eine Agentur imstande ist, eine Strategie zu entwickeln, die diesen Namen verdient und damit den Zielen Maßnahmen zuordnet. Die den Medien, Plattformen und Werbemöglichkeiten eine Rolle im Mix zuweist. Also Ordnung zu schaffen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die hohe Kunst eine Strategie zu entwickeln, beherrschen nur wenige: Eine Strategie, die der Marke einen einzigartigen Auftritt verschafft. Einen unverwechselbaren Auftritt, dem sich alle Medien und Maßnahmen unterzuordnen haben.
Davon war in den letzten Jahren herzlich wenig zu sehen. Dafür umso mehr blinder, strategieloser Einsatz der neuen, digitalen Spielwiesen.
Ist das Media, oder kann das weg?
Kunden, die sich auf die Suche nach einer Strategie begeben, werden sicher nicht fündig bei einer Spezialagentur für Influencer Marketing. Sehr viel wahrscheinlicher bei einer Kreativagentur, in der fähige Planner arbeiten. Mitunter, aber wohl nur in seltenen Fällen bei einer Mediaagentur. Keinesfalls jedoch bei einer Mediaagentur, deren Chefs damit beschäftigt sind, die renditeträchtigen "Produkte" des Hauses zu verkaufen. Ebenso wenig bei einer Agentur, die glaubt, dass 100 Prozent Programmatic genau richtig sind. Sie haben die Chance, sich ernsthaft als strategischer Partner der Kunden aufzustellen, nicht wahrgenommen.
Richtig ist Balance. Richtig ist, die Fähigkeiten und Einsatzmöglichkeiten der neuen, innovativen Instrumente und Tools strategisch einzuordnen. Wenn Mediaagenturen das könnten, hätten sie eine Berechtigung im Markt. Aber die meisten sind gerade mit anderem beschäftigt. Die meisten mit sich selbst. Dann heißt es bald: Ist das eine Mediaagentur, oder kann das weg?