Innovation:
Corona wird die Disruptoren der Zukunft entfesseln
Not macht bekanntlich erfinderisch. Und in Not befindet man sich, wenn es ein Problem zu lösen gilt, aber die Zeit, finanzielle Ressourcen oder helfende Hände knapp sind. Wie jetzt, sagt Ben Harmanus von Hubspot.
Blicken wir zurück auf die letzte Finanzkrise, die 2008 mit dem Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers den Höhepunkt erreichte. Milliarden von Euro lösten sich in Luft auf. Es folgte eine Rezession. In den wirtschaftlich nicht sonderlich rosigen Folgejahren sind disruptive Unternehmen wie WhatsApp, Slack, Airbnb oder Uber entstanden.
Slack wurde ursprünglich als Kollaborations-Tool von vier Gründern gebastelt, die über Nordamerika verteilt an einem Videospiel arbeiteten. WhatsApp diente dazu, im iPhone den Kontakten den eigenen Status mitzuteilen. Die Funktion war ein Flop, wurde aber von einigen Nutzern zweckentfremdet, um sich über die Push-Funktion von iOS Kurznachrichten zu schicken. WhatsApp erhielt eine Chatfunktion, die Erfolgsgeschichte nahm ihren Lauf.
Amazon, der Krisengewinner
Heute sind die genannten Marken und Lösungen global bekannt und für viele von uns kaum wegzudenken. Übrigens: Der Amazon-Service Amazon Prime launchte in Deutschland Ende 2007, also inmitten der sich anbahnenden Krise. Heute umfasst der Abo-Service unzählige Leistungen, darunter die Streaming-Services Prime Video und Prime Music oder der Lieferservice Amazon Fresh – drei Gewinner in der Corona-Krise.
Durch die Ausbreitung des Coronavirus Covid-19 stecken wir heute inmitten einer weiteren globalen Krise. Der stationäre Einzelhandel in Deutschland kommt zum Stillstand. Für viele Dienstleistungen und Produkte läuft die Nachfrage gegen Null. Auch Unternehmen, die über ein üppigeres Finanzpolster verfügen, legen alle nicht überlebenswichtigen Projekte auf Eis. Der eben noch dringend gesuchte Developer wird nun doch nicht eingestellt. Auf den ersten Blick ist diese Reaktion verständlich. Aber in welche Zukunft führt sie?
Vorsicht ist gut, Innovation ist besser
Die Corona-Krise offenbart in Deutschland die vielen verschleppten und verpassten Chancen der Digitalisierung. Inflationär verbreiten Unternehmen derzeit in den sozialen Netzwerken, wie gut ihnen Remote Work und Video-Meetings gelingen. Damit verraten sie über den Status ihrer digitalen Transformation vielleicht mehr als ihnen bewusst ist.
Natürlich ist es jetzt primär wichtig, dass Teams, wenn es das Geschäftsmodell erlaubt, dezentral arbeiten können. Doch ist diese Hürde genommen, was kommt dann? Business as usual – nur in Jogginghose und mit Kind auf dem Schoß?
Jetzt ist die Zeit zum Handeln, nicht zum Aussitzen. Und es passiert bereits sehr viel! Hier ist eine Auswahl einiger nennenswerter Beispiele:
- Zusammen mit sieben sozialen Initiativen führte die Bundesregierung den Hackathon #WirVSVirus durch. Fast 23.000 Menschen haben sich aktiv an dem Programmierwettbewerb für Lösungen in Zeiten der Corona-Pandemie beteiligt. Programmierer, Designer, Problemlöser und sozial engagierte Bürger*innen tauschten sich zwei Tage online aus und entwickelten Prototypen. 1.500 Projekte wurden bearbeitet. Darunter über 100 Herausforderungen der Bundesministerien oder von Behörden wie der Bundespolizei. Von einigen Projekten werden wir sicherlich noch mehr hören. Die Aktion erregte Aufmerksamkeit: Unter #WevsVirus planen Indien, die Schweiz, Belgien, Kanada, Argentinien, Kolumbien und Brasilien ähnliche Aktionen. Deutschland als Vorreiter für crowdbasierte digitale Sprints zur Krisenbewältigung? So stelle ich mir #Neuland vor.
- Die Mobilitätsbranche leidet besonders stark unter der Covid-19-Situation. Während Unternehmen wie Lime vorerst ihre E-Scooter einlagern, bieten sich die Berliner Taxifahrer als Einkaufshilfe und Essenslieferanten an. Im Prinzip replizieren sie damit das Konzept von Uber Eats. Jetzt fehlt eigentlich nur die passende App.
- Eine weitere Herausforderung ist der rasante Anstieg von Mitarbeitern im Home-Office. Für diese steht oftmals das Equipment nicht zur Verfügung. Laptops sind inzwischen ein knappes Gut. Das Berliner Start-up everphone bastelte kurzerhand ein Home-Office-Paket, das den Nutzer mit Monitor, Headset, Maus, Tastatur und Office-Anwendungen versorgt – und das ganze läuft auf einem handelsüblichen Smartphone.
Die Beispiele zeigen, dass in Krisen unter Zeitdruck neue Konzepte extrem schnell funktionsfähig werden können. Produkte werden mit dem digitalen Gafferband zusammengeschustert und initial am Kunden getestet. Vielleicht sind diese Ideen in Zeiten von Covid-19 nur Nebenprodukte, simple Hacks oder Pflaster auf unseren Wunden.
Die Weichen werden gestellt
Vielleicht läuten sie aber Verhaltensänderungen und neue Gewohnheiten ein und bestimmen in wenigen Jahren wie wir arbeiten oder konsumieren. Die Growth Hacks von heute sind die Best Practice von morgen.
Diese Verfahrensweise erfordert in Deutschland eine Abkehr davon, bestmöglich perfekte Produkte zu entwickeln. Ob Start-up, Mittelstand oder Konzern, in den nächsten Wochen muss jedes Unternehmen zeigen, ob über die Management-Buzzwords Kundenzentrierung, Agilität oder Fehlerkultur nur geredet wird, oder sie Teil der gelebten Unternehmensrealität sind.
Heute werden die Weichen dafür gelegt, wer in naher Zukunft Disruptor ist, und wer disruptiert wird.
Als Digital-Stratege nutzt Ben Harmanus, Principal Marketing Manager EMEA bei HubSpot, das Web seit mehr als 20 Jahren, um Menschen, Marken und Produkten zu nachhaltigem Wachstum zu verhelfen. Auf Konferenzen spricht er über obsessive Kundenzentrierung, Disruption und Storytelling. 2017 veröffentlichte er das #1 Bestseller-Buch Content Design - Durch Gestaltung die Conversion beeinflussen.