Marketing im digitalen Zeitalter:
Matthias Schrader: "Marken werden aus digitalen Nutzererfahrungen aufgebaut"
"Die Rollen von eingesessenen Unternehmen und Herausforderern haben sich umgekehrt", sagt Matthias Schrader, Lead Accenture Interactive DACH, im Interview. "Die Stars der Old Economy sind nun die Herausforderer."
Herr Schrader, wo stehen die DAX-Unternehmen heute im Vergleich zu den großen Digitalkonzernen?
Noch vor gut zehn Jahren konnte sich die Marktkapitalisierung der größten DAX-Konzerne mit der von Microsoft, Google und Apple messen. Heute braucht es schon fünf DAX-Schwergewichte, um wenigstens Facebook aufzuwiegen – den kleinsten der fünf digitalen Superstars. Der Abstand hat sich deutlich vergrößert, die großen deutschen börsennotierten Unternehmen haben den Anschluss verloren. Die rein digitalen Player leben in einer Parallelwelt mit eigenen Gesetzen.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Zum einen haben sich die Rollen von eingesessenen Unternehmen und Herausforderern umgekehrt: Die Stars der Old Economy sind nun gegenüber den digitalen Pure Playern in der Rolle der Herausforderer. Zum anderen hat sich die Rolle von Marken verändert. Marken werden überwiegend aus digitalen Experiences, also Nutzererfahrungen aufgebaut. Für das Marketing bedeutet dies, dass es sich nicht länger auf Werbung reduzieren lassen darf. Das Marketing muss sich auch wieder um das Produkt kümmern, das vierte P im klassischen Marketingmix. So kann es zum Ausgangspunkt einer digitalen Transformation werden, die von der Experience getrieben ist.
Warum geschieht das nicht heute schon und warum sollten wir die Parallelwelten aufbrechen?
Bei vielen Unternehmen sehen wir künstliche Barrieren in den Köpfen. Im Grunde ist klar, was zu tun ist, aber die eingefahrenen Strukturen, die Parallelwelten der Silos und Abteilungen verhindern die konsequente Ausrichtung auf den Kunden. Das ist erklärbar, denn die Strukturen sind ja über Jahrzehnte für die bestehende Welt und für das Bestandsgeschäft immer wieder angepasst und optimiert worden. Auch die ersten Wellen der Digitalisierung haben zu enormen Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen geführt. Dabei ist aber nur das Bestehende inkrementell optimiert worden. Das reicht heute nicht mehr aus, um neue Wertschöpfung und damit Wachstum zu generieren.
Wie lässt sich dann neue Wertschöpfung erzeugen?
Heute ist die Experience, also die Nutzererfahrung, der wichtigste Wertschöpfungsfaktor. Es geht darum, Experiences zu schaffen, die nicht nur inkrementell besser sind, sondern die Erwartungshaltung an ein Produkt und Dienst neu definieren. Nur dann ändert sich menschliches Verhalten im großen Stil. Design und die Entwicklung von digitalen Produkten und Services muss daher bei der Experience beginnen und sich von dort rückwärts zur Technologie durcharbeiten. Nicht umgekehrt. Die digitale Transformation beginnt beim Nutzer, nicht bei der Technologie.
Das ist sicher nicht ganz billig.
IDC prognostiziert, dass allein in diesem Jahr weltweit 1,25 Billionen Dollar in die digitale Transformation investiert werden. Wir reden hier also über signifikante Budgets. Auf der anderen Seite hat das heutige Marketing noch große Effizienzreserven. Der Umbau des bestehenden Marketing-Betriebsmodells kann die Budgets für die Entwicklung transformationaler Services und Produkte freimachen. Das Marketing hat hier eine Schlüsselrolle, nicht nur weil es über die Budgets verfügt. Es ist die Funktion im Unternehmen, die die höchste Empathie für den Kunden hat.
Matthias Schrader, Gründer der Digitalagentur SinnerSchrader und seit deren Verkauf DACH-Chef bei Accenture Interactive, spricht auf der "Munich Marketing Week", die vom 4. bis 6. Juni in München stattfindet.