Kommentar:
Die Zukunft von Virtual Reality liegt im Kurzformat
Die Pornoindustrie, Nachrichten, Videospielehersteller, Sport, Filmproduzenten, Werber: Alle sind heiß auf Virtual Reality. Aber wer kann davon wirklich profitieren? W&V-Autorin Susanne Herrmann hat sich Gedanken über den VR-Hype gemacht.
Virtual Reality (VR) verspricht ungeahnten kreativen Spielraum und den Konsumenten vollkommen neue Erfahrungen. Seit die Technik 2016 aus der Nische kam, wird sie vor allem in der Medien- und Werbeszene als nächster heißer Scheiß betrachtet. Und tatsächlich: Laut International Data Corporation wurden im vergangenen Jahr bereits acht Millionen VR-Headsets verkauft. Dieses Jahr sollen es schon mehr als doppelt so viele werden, für 2020 prognostizieren die Analysten 76 Millionen verkaufte Headsets weltweit. Zu verlockend, um sich hier rauszuhalten.
Vorteile von Virtual Reality
Einmal etwas erleben, für das sonst der Mut, das nötige Kleingeld oder die körperlichen Voraussetzungen fehlen: Diese Chance bieten VR-Geräte. Ich kann zum Mars reisen – in der Realität zu weit entfernt -, ins Innere von körpereigenen Zellen – in der Realität zu klein für einen Besuch -, über einen Markt im finsteren Mittelalter schlendern – zu lange her -, mich mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug werfen, obwohl ich dafür zu feige bin oder zu unsportlich.
Raum und Zeit werden mittels VR überwindbar. Das kann lehrreich sein oder einfach nur aufregend.
Und: Ich kann Teil des Ganzen werden, ein Konzert, eine Ausstellung, ein Sportereignis, eine Geschichte erleben, statt nur dabei zuzuschauen. Selbst entscheiden, ob ich links oder rechts schaue, ob ich eine Tür öffnen oder lieber geschlossen lassen möchte, durch meine Handlungen (je nach Skript) beeinflussen, was als nächstes geschieht.
Das sind nur zwei Pluspunkte für VR. Aber wirklich große, nein, großartige.
Nachteile von Virtual Reality
Das Hautnah-Gefühl endet da, wo ich mit der virtuellen Umwelt interagiere. Controller ermöglichen es, Gegenstände zu bewegen, wirklich fühlen, riechen, schmecken kann ich sie nicht. Und das ist nicht nur beim Erotik-Clip ein bisschen traurig, sondern auch, wenn ich in der virtuellen Realität etwas lernen möchte. Wer zum Beispiel mithilfe eines VR-Videos übt, die Fliesen für sein neues Badezimmer zu verlegen, der ist danach immer noch kein Fliesenleger: Ein Controller zum Aufbringen der Keramik ist daheim auf Knien nicht von Nutzen.
Das Hautnah-Gefühl kann ich dann erleben, wenn ich eine VR-Brille benutze, die mir Bewegungsspielraum erlaubt. Zwar zeigt ein Raster auf dem Bildschirm an, wo die Wohnzimmerwand auf mich wartet. Passe ich nicht auf, kann ich mir trotzdem eine blutige Nase holen.
Der Radius ist ohnehin eingeschränkt. Selbst wenn mich keine Kabel zügeln, kein Sessel im Weg steht und die Controller mich einige Meter weit ins Gelände porten: Das heimische Wohnzimmer hat spürbar einige Quadratmeter weniger als die Oberfläche des Planeten Mars oder der Golfplatz, über den ich so gern schlendern würde.
Vom Komfort der VR-Brillen samt Kopfhörern und Handgeräten müssen wir vermutlich an dieser Stelle nicht sprechen. Ebenso wenig von der teilweise geringen Auflösung der Brillen-Bildschirme oder der technischen Übertragungsqualität, die für manche Livestreams heute noch nicht für ruckelfreien Spaß ausreicht.
Aber über etwas anderes: die virtuelle Version der Seekrankheit. Vor allem bei den an sich alltagstauglicheren VR-Systemen, bei denen der Nutzer vorzugsweise auf einem Fleck stehen oder auf dem Sofa sitzen bleibt, tritt der Effekt auf. In der VR herumlaufen, in Wahrheit stillstehen, das sorgt dafür, dass unser Gehirn einander widersprechende Signale empfängt und diese verarbeiten muss. Was ist nun echt? Die Augen signalisieren Bewegung, der Körper Ruhe – manch einem wird dabei schließlich schrecklich schlecht.
Dazu kommt, dass ich von der realen Außenwelt völlig isoliert bin. Ich kann also nicht nur auf mögliche Gefahren nicht reagieren, sondern mich auch nicht austauschen mit anderen, die vielleicht, vielleicht auch nicht, dasselbe erleben wie ich.
Film & Fernsehen, bitte Finger weg von VR!
Ihr seid schon dabei, ich weiß. Ein Blick ins Studio von "Galileo" oder "Stern TV"? Danke, aber nein danke. Dagegen spricht, dass der Blick hinter die Kulissen nach dem ersten Mal keine allzu spannenden Erlebnisse mehr zu bieten hat. Ist der Reiz des Neuen weg, juckt das keinen mehr.
Fußballspiele in 360 Grad? 90 Minuten mit VR-Brille können eine Hölle sein. Die ganze Zeit über bin ich dem Stress ausgesetzt, nichts zu verpassen und trotzdem alles zu versuchen. Hinterher macht sich neben großer Übelkeit das Gefühl breit: Wenn ich in der 67. Spielminute nicht an die Seitenlinie, sondern zum Tor geschaut hätte, ob ich dann …? Gemeinsame Torjubel, Abklatschen, Um-den-Hals-fallen haben sich erledigt: erstens schmerzhaft mit dem Gerät, zweitens könnten wir was verpassen.
Filme und Serien, bei denen der Zuschauer per Kopfbewegung neue Handlungsstränge auslöst? Darüber denken Fernsehmacher seit geraumer Zeit intensiv nach: Wie wirkt sich das auf die Art aus, Geschichten zu erzählen? Wie werden die Zuschauer die Szenen wahrnehmen? Was können sie steuern?
Bitte bitte nicht! Dagegen spricht erneut: zu lange Zeit mit Brille. Wir wissen, dass gute Formate gern gemeinsam geschaut werden – das wird mit den Vollisolationsbrillen nicht gehen. Wenn es zu spannend wird, kann ich nicht mal ängstlich nach der Hand des lieben Menschen neben mir auf der Couch greifen – selbst wenn ich sie finde, kriegt er einen Riesenschreck. Oder hat sich vielleicht die weichgespülte Version des Films ausgesucht.
Ich bekomme ja selbst in diesen Szenario nur zu sehen, was ihr euch habt ausdenken können. Die Auswahl bleibt begrenzt, ist eine scheinbare, die sich bald abnutzt. Bleibt lieber bei euren Stärken, sowohl was Sport als auch Unterhaltung angeht: Zeigt uns das, was tatsächlich relevant für die Geschichte/das Spiel ist. Und setzt das so in Szene, dass es uns maximal fesselt.
Virtual Reality: perfekt fürs Marketing
Die große Stärke von VR liegt in den Kurzformaten. Das kann mal ein Nachrichten-Clip sein. Ein Sporterlebnis für Menschen mit Handicap. Ein Lehrstück. Ein Porno für zwischendurch. EIn Trailer für eine ausgefallene Serie.
Vor allem aber ist das: Werbung. Und Vertriebsmaterial. Hier nämlich treffen die Vorteile von Virtual Reality mit den Kundenbedürfnissen zusammen, ohne dass die Nachteile von VR zu sehr ins Gewicht fallen.
Wenn ich etwas kaufe/miete/buche, kann ein intensives Produkterlebnis mir enorm bei der Entscheidung helfen. Und zwar gerade dann, wenn Raum, Zeit oder Geld kritische Faktoren darstellen.
Das Ferienhaus an der Ostsee, der Traumstrand auf den Malediven? Kann man schwerlich mal schnell überprüfen, bevor man dann wirklich hinfährt. Ein Rundgang mit VR-Brille verschafft einen viel besseren Eindruck als Fotos auf der Webseite. Was vor allem ein gutes Verkaufsargument ist, wenn der Urlaub ein bisschen was kostet.
Wohnungskauf in einer anderen Stadt? Probefahrt mit dem nächsten Wunsch-Leasing-Fahrzeug? Rundgang durch die Firma des potenziellen nächsten Arbeitgebers? Ein Testlauf mit der neuen Kücheneinrichtung, bevor sie, tausende von Euro schwer, im eigenen Haus steht?
Mit VR in wenigen Minuten erledigt, das hilfreiche Erkenntnisse für die anstehende Entscheidung geben.
Und darum geht es doch am Ende: ums Nutzerlerlebnis. Um bequeme Lösungen in einer komplexer werdenden Welt. Um den Kunden.
P.S.: Der steht übrigens in Sachen VR – natürlich – vor allem auf Spiele (41 Prozent). Dann folgen schon Reisen (35 Prozent). Für Konzerte (23 Prozent), Filme (20 Prozent) und Sportereignisse (19 Prozent) ist das Potenzial vorerst sehr überschaubar.