Hat sich das auch beim Zugriff über Smartphones bemerkbar gemacht?

Dies war die erste "mobile WM". Wegen der späten Anstoßzeiten haben die Menschen noch intensiver als sonst zu Hause oder unterwegs digitale Medien konsumiert. Das entspricht dem Trend der wachsenden Mobil-Nutzung. Mittlerweile verzeichnen wir gut 30 Prozent Nutzung über Smartphones und noch einmal mehr als zehn Prozent über Tablets. In Randzeiten, wie jetzt bei der WM, und an Wochenenden liegt das Verhältnis von Desktop-Nutzung zu Mobil mittlerweile nahezu bei 50:50. Spiegel Online ist also nicht mehr nur ein Büromedium, sondern begleitet die Menschen immer stärker auch in ihrem privaten Lebensbereich. Das ist eine enorme Chance für uns.

Wie wirkt sich das auf den Workflow in der Redaktion aus?

Wir bauen unsere Organisationsstrukturen systematisch um. Dabei diente diese WM uns auch als Testfall. Neu war erstens der Rund-um-die-Uhr-Betrieb, zweitens dass nicht mehr Ressorts die entscheidenden Einheiten waren, sondern ressortübergreifende Teams: zwei in Brasilien, zwei in Hamburg. Die ganze Redaktion war beteiligt – eben nicht nur die Sportredakteure. Drittens entwickeln wir nun alle redaktionellen Formate aus der Perspektive unserer Nutzer. Unser Leitgedanke ist: Wir wollen unsere Nutzer zum passenden Zeitpunkt mit dem passenden Inhalt im passenden Format bedienen.

Das heißt konkret?

Das bedeutet, dass wir uns viele Gedanken darüber machen, wann unsere Nutzer welche Informationen in welcher Form haben wollen. Am Beispiel unseres WM-Newsblogs: Morgens früh lieferte er knapp die wichtigsten Informationen zu den Spielen aus der Nacht, dazu Stimmen, Reaktionen und kurze Analysen. Tagsüber nahm der Newsblog eher unterhaltenden Charakter an, zum Beispiel mit Hintergrundinfos aus dem DFB-Quartier, der Videokolumne von Harald Stenger oder unserem WM-Orakel "Der Abstauber". Am Nachmittag bereitete der Newsblog unsere Nutzer mit Fakten auf die nächsten Partien vor. Und während der Spiele wandelte er sich zum Second-Screen-Format: zum bunten Liveticker, der das Geschehen auf den Fanmeilen und in den sozialen Nerzwerken abbildete. Ganz ehrlich: Manchmal war dieses Format sogar spannender als der eigentliche Sport-Liveticker - und wurde zum Teil auch häufiger abgerufen.

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus diesen Erkenntnissen? Gibt es Themen, die einen ähnlichen Aufwand rechtfertigen?

Bei Spiegel Online werden wir Großlagen künftig nach dem Schema organisieren, das wir für diese WM entwickelt haben. Eine planbare Lage wäre beispielsweise jede große politische Wahl. Nicht planbare Lagen gibt es selbstverständlich auch, wie im März, als wir innerhalb von zwei Stunden ein Team zusammengestellt haben, das dann wochenlang über die Ukraine-Krise berichtet hat.

Im Februar hieß es im Zuge mehrerer Personalien, Sie planen im Online-Bereich eine Umstrukturierung. Die Berichterstattung zur WM war jetzt wohl eher so etwas wie eine Speerspitze dazu?

Das war zumindest eine Großlage, in der wir zeigen konnten, in welche Richtung wir unsere journalistische Berichterstattung und unsere redaktionellen Workflows entwickeln. Kurz zusammengefasst: Wir haben fünf strategische Entwicklungsbereiche für Spiegel Online definiert. Da ist erstens die Schärfung unseres inhaltlichen Profils. Wir wollen uns noch viel stärker von anderen News-Portalen unterscheiden. Schnell sein kann heutzutage im Online-Bereich jeder. Aber verlässliche, stimmige und wirklich relevante Informationen anzubieten, das können wir besser als andere. Diese Qualität wollen wir in den kommenden Monaten weiter ausbauen. Wer Spiegel Online liest, kann den Informationen vertrauen und weiß, was wirklich wichtig ist.

Welche Entwicklungsbereiche stehen noch auf der Agenda?

Das zweite Thema ist der systematische Ausbau unseres Mobil-Angebotes. Die wachsende Mobil-Nutzung ist derzeit die größte strukturelle Herausforderung - inhaltlich, technisch und in der Vermarktung. Gleichzeitig ist sie eine riesige Chance, neue journalistische Formate zu entwickeln und neue Nutzer zu gewinnen, gerade auch jüngere. Dafür entwickeln wir permanent neue Formen. Ein Beispiel ist "Der Morgen live“, quasi eine Morgenmoderation für Smartphones, eine lebendige Mischung aus News und Unterhaltung. Das Format wird sehr gut angenommen. Andere Beispiele sind "Der Morgen-Kommentar", der "Pressekompass" und die Video-Kurznews, die wir speziell für die Mobil-Seite und die Apps produzieren. Sie zeigen die wichtigsten Nachrichten des Tages im Bewegtbild mit Untertiteln - so dass man sie auch ohne Ton in der U-Bahn oder im Bus anschauen kann.
Unser drittes großes Thema ist die Entwicklung neuer Erzählformen: Datenjournalismus und Storytelling. Indem man komplexe Daten klug auswertet und smart visualisiert, kann man ganz neue, spannende Geschichten erzählen. Ein Beispiel ist unsere Mindestlohnkarte, mit der wir gezeigt haben, in welchen Städten und Regionen Deutschlands man sich als Mindestlohn-Bezieher die Miete überhaupt noch leisten kann - und wo nicht. Desweiteren werden wir das Storytelling-Prinzip auf immer mehr Spiegel-Online-Geschichten anwenden: Einzelne Bestandteile wie Text, Video, Grafik oder Social-Media-Quotes werden nicht mehr nach- oder nebeneinander platziert, sondern integriert zu einem Erzählfluss zusammengeführt. Das ist ein entscheidender Umbruch, weil es die Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen, grundlegend verändert.

Wie bringen Sie diese Denke in die Redaktion?

Wir haben die neuen Prinzipien auch in der Organisationsstruktur verankert. Es gibt für jeden der fünf strategischen Bereiche einen Kopf, einen Kollegen, der direkt an die Chefredaktion berichtet: einen Geschäftsführenden Redakteur Mobil, eine Storytelling-Koordinatorin und eine Datenjournalistin sowie jeweils einen Verantwortlichen für die anderen beiden strategischen Bereiche: Bewegtbild und Social Media. Wir werden das Thema Video viel stärker als bislang entwickeln und dabei die ganze Redaktion einbeziehen, zum Beispiel, indem wir unsere Reporter schulen, damit sie per Smartphone Videos drehen können. Auch den Umgang mit Social Media werden wir viel systematischer in der Redaktion verankern. Als Redakteur eine Spiegel Online-Geschichte zu machen bedeutete bisher: erstens recherchieren, zweitens schreiben und filmen, drittens produzieren. Nun kommt ein vierter Arbeitsschritt hinzu: die Story viral zu verbreiten und den Dialog mit den Lesern zu suchen.

Gibt es auch schon das nächste große Ereignis, bei dem Sie die ganze Bandbreite einsetzen werden?

Die Krisen in der Ukraine und in Nahost verlangen es natürlich, dass wir permanent schnell, verlässlich und ausgewogen berichten. Abgesehen davon gibt es in diesem Jahr eigentlich nur noch eine planbare Großlage für uns: den zwanzigsten Geburtstag von Spiegel Online. Daran arbeiten wir bereits.


Autor: Anja Janotta

seit 1998 bei der W&V - ist die wohl dienstälteste Onlinerin des Hauses. Am liebsten führt sie Interviews – quer durch die ganze Branche. Neben Kreativ- und Karrierethemen schreibt sie ab und zu was völlig anderes - Kinderbücher. Eines davon dreht sich um ein paar nerdige Möchtegern-Influencer.