Werbewirkungsexperte:
"Entthront den ROI!"
Alle reden vom Return on Invest – und meinen damit oft ganz Unterschiedliches. Doch der Fokus auf den ROI fördert das kurzfristige Denken im Marketing. Höchste Zeit, den ROI nüchterner einzuschätzen, meint Werbewirkungsexperte Dirk Engel.
Wer heute über Werbewirkung redet, spricht von KPIs – Key Performance Indicators. Dabei wird oft vergessen, dass ein KPI noch keine Wirkung ist. Indikatoren dienen dazu, Hinweise auf Phänomene zu bekommen, die wir nicht direkt beobachten können. Sie liefern uns Informationen, um Entscheidungen zu treffen. Sie bilden weder die Wirklichkeit ab, noch zeichnen sie uns ein vollständiges Bild der untersuchten Sachverhalte. Indikatoren zeigen uns nur einen Ausschnitt, weshalb in der Regel zahlreiche Indikatoren nebeneinander erhoben werden müssen, um ein einigermaßen umfassendes Bild zu bekommen.
Ein KPI ist noch keine Wirkung
So ist es auch mit den Indikatoren für Werbewirkung: Um den komplexen Werbewirkungsprozess zu erfassen, benötigen wir verschiedenste KPIs mit unterschiedlichen Funktionen. Einige dienen als Frühwarnsystem, um schnell zu optimieren, andere helfen uns tiefer liegende Mechanismen zu verstehen. Viele Marketing-Leute glauben allerdings, dass es einen König unter den KPIs gibt. ROI heißt der royale Indikator. Der „Return on Invest“ sei letztendlich der wichtigste Kennwert, um Kommunikationsmaßnahmen zu bewerten. Dabei gibt es zwei Probleme: Zum einen verstehen viele ganz unterschiedliche Dinge unter einem ROI. Zum anderen verengt ein zu starker ROI-Fokus das Marketing auf kurzfristig wirkende Maßnahmen.
Jedem sein ROI
Für einen Finanzcontroller ist der ROI eine klare Formel zur Berechnung der Eigenkapitalrentabilität. Für manchen Vermarkter von Online-Werbung ist er die Zuordnung eines Umsatzes zu den Kosten einer konkreten Werbemaßnahme – im Direktmarketing nannte man das früher die Werberendite. Für einen Marketing-Entscheider kann es vieles bedeuten, unter anderem ein Maß zur Evaluierung der gesamten Marketing-Investitionen. Für einen Statistiker ist es ein mathematisch modellierter Wert im Rahmen eines Marketing-Mix-Modellings, der den Wirkungsbeitrag eines Medienkanals oder einer Maßnahme am zusätzlichen Umsatz benennt. Und für viele Werber ist der ROI einfach nur eine Metapher dafür, dass sich jede Art von Werbung früher oder später irgendwie monetär auszahlen sollte. Es ist offensichtlich, dass sich bei solchen unterschiedlichen Auffassungen kaum ein ROI mit dem anderen vergleichen lässt.
Kurzsichtigkeit durch Kurzfristigkeit
Der ROI hat noch ein anderes Problem: Er lässt sich einigermaßen sicher nur für kurzfristig wirkende Marketing-Maßnahmen errechnen. Denn nur bei einer mehr oder minder direkten Wirkung lassen sich Input und Output in einen anschaulichen Zusammenhang bringen. Doch Marketing hat ebenso langfristige Wirkungen: Eine Marke muss erst einmal in den Köpfen der Verbraucher verankert werden, damit sie das Verhalten beeinflusst. Viele kurzfristige Käufe profitieren so von jahrelanger
Markenpflege. Bestimmte Marketing-Instrumente, z.B. Image-Werbung in klassischen Medien (TV, Print, Plakat, Radio), haben hier ihre Stärken, die sich aber in einer reinen ROI-Betrachtung kaum abbilden lassen. Im Gegensatz dazu werden kurzfristig wirkende Maßnahmen (etwa Suchmaschinen-Werbung oder Verkaufsförderungsmaßnahmen im Laden) auf Grund ihres ROI manchmal überschätzt.
Markenpflege braucht Zeit
Marketing ist dabei kein Entweder-Oder: Langfristig wirksame Markenpflege ist genauso wichtig wie kurzfristiges Abverkaufen. Die starke Orientierung an einem dominanten Indikator, dem Return on Invest, fördert allerdings das Kurzfristdenken. Andere Faktoren kommen hinzu – etwa der Wunsch, den Investoren jedes Quartal schöne Zahlen zu präsentieren, oder ein zu kurzes Verweilen von Marketings-Chefs auf einen Posten, die dann schnell Erfolge zeigen müssen. Die unbestreitbaren Stärken digitaler Marketing-Maßnahmen liegen meist auf der Kurzstrecke, weshalb die Digitalisierung das Unterschätzen von langfristigen Marketingzielen verstärkt. Realtime ist immer jetzt, doch Markenpflege muss in die Zukunft schauen.
Auf die Balance kommt es an
Die führenden Marketing-Wissenschaftler scheinen heute in Großbritannien und Australien zu arbeiten – sie werden nicht müde, auf die Wichtigkeit eines ausbalancierten Marketings hinzuweisen. Dabei haben sie eine einfache Faustregel gefunden: im Durchschnitt sollten 40 Prozent des Budgets für kurzfristige, verkaufsfördernde und oft digitale Maßnahmen investiert werden. 60 Prozent sollte für Markenpflege, Bekanntheit und Image-Werbung in klassischen Werbeträgern und Online-Medien aufgewendet werden. Die hier relevanten KPIs sind ebenso klassisch: Markenbekanntheit, Präferenzen, Image-Dimensionen. Hier einen langfristigen Return on Invest zu ermitteln, ist eine wichtige, allerdings schwierige Aufgabe für Marktforscher und Datenanalytiker.
Keine Frage: Der Return on Invest ist für viele Bereiche ein wichtiger Indikator – aber nur einer unter vielen. Andere KPIs sind ebenso bedeutsam, gerade wenn es darum geht, Marken langfristig erblühen zu lassen. Der ROI sollte nicht der König unter den KPIs sein – dafür ist er zu kurzatmig und widersprüchlich. Marketingerfolg ist ein Langstreckenlauf und verlangt dementsprechend einen langen Atem.
Über den Autor: Dirk Engel ist unabhängiger Berater und Marktforscher. Er unterstützt Unternehmen und Werbevermarkter in der Erforschung von Werbewirkungen. Gleichzeitig ist er als Hochschul-Dozent, Keynote-Speaker und Fachautor zu Marketing- und Medienthemen unterwegs.