Mixed Reality:
"Alles, was logistisch Kosten verursacht, können Unternehmen in Zukunft einsparen"
Technologien wie AR und VR transformieren das Marketing. Aber: Die Kompetenzen dafür liegen oft noch gebündelt "im Nebengebäude", meint Kristian Kerkhoff von Demodern.
Herr Kerkhoff, zunächst im Gaming-Sektor angesiedelt, erleben AR, VR & Co. seit Jahren einen regelrechten Boom in vielerlei Branchen. Inwiefern transformieren innovative Technologien das Marketing und den Vertrieb in Unternehmen?
"Neben der Faszination und Begeisterung, die mit AR/VR und deren neuen technischen Möglichkeiten einhergeht, boomen diese Technologien auch aus sehr rationalen und wirtschaftlichen Überlegungen. Für ein Meeting wird man in Zukunft keine Reisekosten mehr ausgeben müssen und schont damit die CO2-Bilanz – und dennoch sitzt man von zu Hause aus per VR-Headset mit allen Beteiligten in einem Raum. Die Jacht, die zur 'Boot' in Düsseldorf ausgestellt werden soll, muss erst gar nicht gebaut werden, um gezeigt und verkauft werden zu können. Sprich: Alles, was logistisch Kosten verursacht oder nur für Präsentations- und Vorführ-Zwecke erstellt werden müsste, können Unternehmen in Zukunft einsparen. Und dann kommen natürlich noch die Möglichkeiten der Experience an sich hinzu. In virtuellen Szenarien können zum Beispiel Tutorials gezeigt werden, wie der Selbstaufbau von Möbeln. Oder auch zum Zweck der Aus- und Weiterbildung, wie die Fahrt in einem Blutkörperchen durch die Venen des Körpers. Oder man nutzt es, wie aktuell auch schon, als neuen Kanal für unverwechselbare Brand-Experiences. Wer sich einmal mit den Brillen oder der AR-Technologie näher beschäftigt hat, kommt schnell auf viele gute Ideen. Und so kommt das Thema mehr und mehr ins Gespräch und gewinnt an Relevanz."
Wie weit sind die Unternehmen im Einsatz innovativer Mixed Reality-Technologien, 3D-Konfiguratoren und interaktiven Installationen in Marketing und Vertrieb? Wie müssen sie sich Agenturen aufstellen, um Unternehmen dabei beraten und unterstützen zu können?
"Unternehmen und Agenturen müssen hinsichtlich Innovation Kompetenzen hinzugewinnen. Es reicht nicht aus, wenn sich einige Nerds im Nebengebäude damit befassen. Bei der Konzeption und Entwicklung zeitgemäßer Mixed Reality-Anwendungen sind viele Kompetenzen – wie Design, Programmierung, User Experience, Künstliche Intelligenz, Realtime 3D, Datenhandling, Produktinformationen – beteiligt. Somit müssen viele unterschiedliche Personen und Abteilungen an einem Strang ziehen. Vielerorts gibt es leider noch immer mehr Bedenkenträger als Menschen, die den Mut haben, die Technologien auch tatsächlich zu nutzen. Aber das wird sich mit der Zeit geben. Schon heute bauen viele Firmen parallel zu ihren aktuellen Prozessen eine Daten-Pipeline auf, die auch ihre Produktdarstellungen in Realtime 3D-Visualisierungen berücksichtigen. Damit wäre schon ein wichtiger Schritt getan, denn irgendwo her müssen die Inhalte für VR- und AR-Anwendungen ja kommen. Auch Agenturen müssen sich entsprechend aufstellen: Kompetenzen zur Beratung für AR und VR sind vom Projektmanagement über den Designer bis zum Programmierer zu gewährleisten. Zum Beispiel über eigene Game-Developer, um qualitativ hochwertige Produktdarstellungen in 3D-Umgebungen wie Unity erschaffen zu können. Diese Kompetenzen in jedem Team zu haben, schafft Sicherheit im Umgang mit diesen Formaten und bringt wiederum viele Vorteile in der Beratung der Kunden.
Trends kommen und gehen, Technologie entwickelt sich rasant weiter. Welches sind derzeit die größten Herausforderungen für Agenturen als Dienstleister in dieser Nische?
"Die größte Gefahr ist meiner Ansicht nach die derzeitige Entwicklung tatsächlich als Nische anzusehen. Virtuelle Räume oder Produkte sind die logische Konsequenz unseres derzeitigen Konsumverhaltens. Wenn nur noch online gekauft wird und das Zuhause zum eigentlichen POS wird, dann funktioniert das langfristig ökonomisch wie ökologisch nur, indem man sich die Kaffeemaschine vor dem Kauf, in der gewünschten Farbe und den exakten Maßen in seine Küche stellen kann und dann erst entscheidet, ob man dieses Produkt kaufen möchte. Wem will man das denn überlassen? Amazon? Apple? Das würde dazu führen, dass diese Unternehmen noch mehr Marktmacht erhalten und das kann ja nicht im Sinne aller Unternehmen sein. Das Verrückte ist, dass entsprechende Technologien bereits existieren. Wir sollten jetzt agieren um Unternehmen dahingehend zu beraten – und nicht wie das Reh im Scheinwerferlicht erstarren.
Für Agenturen bedeutet das vor allem: Akzente setzen und Innovationen fördern. Umdenken und nicht immer nur das anbieten, womit der Kunde ohnehin schon rechnet, sondern mutige Ideen durchsetzen und in den Unternehmen den Pioniergeist unterstützen. Gleichzeitig sollten Agenturen aufhören, VR und AR als hohle Floskel für Innovationen zu verwenden. Sonst entsteht der Eindruck, diese Technologien seien substanzlos. Aber das Gegenteil ist der Fall. Richtig gute Anwendungen füllen den Markt mit wirklich nutzwertigen Inhalten."
Neben Spieleentwicklern und Agenturen tummeln sich auch Beratungen und IT-Dienstleister im Feld innovativer Technologien. Wo stehen Agenturen in diesem Rennen?
"Es kommt darauf an, um welchen Typ Agentur es sich handelt. Grundsätzlich gibt es jedoch noch viel Unkenntnis in den Agenturen oder nur vereinzeltes Fachwissen im Hinblick auf Innovation. Und hier sehe ich eine Gefahr für die Branche: Manche Agenturen sollten sich fragen, wieso ihnen seit Jahren die guten Entwickler davonlaufen oder wieso der Markt an digitalen Freelance-Fachkräften so groß ist. Auch hier muss ein Umdenken stattfinden, sonst rennen diese Agenturen dem weltweiten Markt hinterher. Oder noch schlimmer: Deren Arbeit wird nicht mehr als relevant wahrgenommen. Die einzig Beruhigende daran: Ich glaube, bei Beratungsunternehmen und IT-Dienstleistern sieht es hinsichtlich ihrer Kompetenz bei VR-Projekten auch nicht viel besser aus. Letztlich müssen alle Ideen zufriedenstellend realisiert werden und da hapert es oft – bei den Beratern in der Umsetzung und bei den IT-Dienstleistern in der Design-Qualität.
Es hilft auch nicht, innovative Technologien nur in vereinzelten Abteilungen stattfinden zu lassen. Das funktioniert genauso gut wie eine einzelne Gleichstellungsbeauftragte in einem Konzern voller Männer im Vorstand. Man muss solche Themen, wie auch das der technologischen Innovationen, als ganzheitliche Aufgabe sehen und zur Mission aller Mitarbeiter in einem Unternehmen machen. Agenturen können sich so in Stellung bringen, im Rennen um Innovationen zu relevanten Ansprechpartnern werden und die Entwicklung des Marktes mitbestimmen."