Kreativ Insights:
Kreativer scheitern: Warum Fehler und Qualen dazu gehören
Zweite Folge unserer Interviewreihe zu Kreativität: Kreativitätsforscher Stephan Sonnenburg erklärt, warum man beim kreativen Prozess niemals bequem sein darf. Und warum die Verzweiflung dazu gehört und wie man Fehlerkultur fördern kann.
Stephan Sonnenburg forscht zum Thema Kreativität an der Karlshochschule in Karlsruhe In regelmäßigen Abständen erklärt der Kreativprofessor bei W&V Online, wie jeder kreativer werden kann - rein wissenschaftlich betrachtet. Im zweiten Teil der Interviewreihe erklärt Sonnenburg, warum man beim kreativen Prozess niemals bequem sei darf. Warum die Verzweiflung dazu gehört und wie man eine offene Fehlerkultur fördern kann.
Lieber Herr Sonnenburg, Sie erforschen, inwieweit Scheitern zum kreativen Prozess dazu gehört. Ohne Qual kein optimales Ergebnis, sagen Sie. Warum ist das so?
In der Kreativitätsforschung spricht man von Illumination, dem Moment, in dem ein Einzelner oder eine Gruppe die zündende Idee hat. Dieser Moment wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Mathematiker Henri Poincaré und dem Psychologen Graham Wallas sehr bildlich beschrieben und ist ein Moment/eine Phase in so gut wie allen Theorien zum Kreativitätsprozess. Keiner weiß wirklich, ob und wann die zündende Idee kommt. Allerdings entsteht sie nicht aus dem Nichts. Sie ist das Ergebnis von Erfahrung, Kompetenz, Motivation und die Kraft, in Grenzbereiche vorzustoßen. Kreativität entfaltet sich nicht in der Komfortzone des Bekannten, sondern dort, wo das Bekannte auf das Unbekannte trifft. Und diesen Grenzbereich erreicht man nicht einfach so, sondern nur mit Anstrengung, Leidenschaft, mit Quälen bis hin zum Scheitern.
Qual gehört also immer dazu?
Dies mag jetzt schauerlich klingen, ist es aber nicht. Quälen und Scheitern sorgen emotional gesprochen für Verzweiflung, für Spannungen, mit denen man produktiv umgehen muss. Neuere Studien zeigen, dass das erfolgreiche Überwinden von Verzweiflung und Spannungen zu einem Perspektivwechsel führt, welche das Kreativitätspotenzial sehr steigert.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Vor kurzem habe ich im Rahmen eines Studienprojektes ein interessantes Experiment durchgeführt: Studierende wurden bewusst in eine Verzweiflungssituation gebracht, in diesem Fall durch negatives Feedback. Damit hatten die Gruppen nicht gerechnet, denn sie waren auf einer "guten Reise". Interessant war zu beobachten, dass die Gruppe, die sich produktiv mit der Verzweiflung auseinandersetzte, quasi die Erfahrung einer Wiedergeburt des Phoenix machte. Die andere Gruppe kam nicht aus der Verzweiflung heraus. Natürlich beendeten wir das Experiment rechtzeitig. In den Diskussionen danach kam heraus, dass das künstliche Schaffen von Verzweiflung hilfreich und kreativitätsfördernd ist, wenn die Gruppe an sich emotional stabil ist und sich die Verzweiflung wirklich an Aufgabe und Ideenfindung festmacht. Deshalb bieten sich auch nur bestimmte Formen an, um Verzweiflung zu erzeugen, wie das Aufbauen von Zeitdruck oder negatives inhaltliches Feedback. Auch bietet es sich an, die Gruppe dann nicht mit der Verzweiflung alleine zu lassen.
Sie sagen, dass die Personen oder die Gruppe emotional stabil sein müssen, um das Scheitern zu ertragen. Aber wie kann man diese positive Einstellung zum Scheitern überhaupt bekommen?
Man kann eine positive Einstellung und einen spielerischen Umgang mit Kreativität bekommen, indem man mit seiner eigenen "mentalen und physischen Box" spielt und das Unbekannte "reinlässt". Verzweiflung sollte als etwas ganz Normales oder Notwendiges angesehen werden, um mit seiner Box an ihren Grenzen zu spielen.
Aber gibt es nicht auch umgekehrt Brainstormings und Kreativsitzungen, die endlos gedehnt werden, obwohl man auf keinen zündenden kreativen Gedanken mehr kommt?
Natürlich heißt Qual nicht Krampf und keiner sollte nach einer Kreativitätssitzung krank werden. Man darf Mitarbeiter in ihrer Verzweiflung nicht alleine lassen, man muss ihnen helfen, sie zu handhaben. Meine Erfahrung zeigt aber, dass viele Teams eher zu früh mit den ersten entwickelten Ideen zufrieden sind. Jetzt heißt es aber nicht, zu stoppen. Denn in der Regel sind eher bekannte Ideen entwickelt worden. Die Gruppe befindet sich mental immer noch in der Komfortzone. Die Herausforderung besteht nun darin, diesen Punkt zu überwinden und in Grenzbereiche vorzustoßen. Nun ist der Perspektivwechsel entscheidend. Hier kann man beispielsweise eine neue Kreativitätstechnik einsetzen, einen anderen Raum aufsuchen, Teams neu mischen oder neue Mitglieder ins Team holen. Hilfreich sind auch körperliche Aktivitäten, eine längere Pause oder die Sinne wachrütteln.
Woran merkt man, dass es noch eine Hürde zu überspringen gibt, und woran, dass man vor einer undurchdringlichen Wand steht, die man doch nicht geknackt bekommt? Oder anders gefragt: Ab wann darf man aufhören?
Zündende Ideen haben eine ungeheure emotionale Wirkung auf die Beteiligten: Jeder von uns kennt doch das Urschreien, überall am Arm die Gänsehaut, körperliches Kribbeln, unfassbares Glückskopfkino. Dies sind Anzeichen, dass eine wirklich gute Idee gefunden ist. Natürlich muss sie einer kritischen Reflektion standhalten, und nicht aus jeder großartigen Idee entsteht eine Innovation oder ein Markterfolg.
Die Angst vor Versagen ist in Deutschland viel zu sehr verbreitet. In Amerika beispielsweise sei der Umgang damit weitaus freier. Inwieweit gehört eine offene Fehlerkultur zu den Grundvoraussetzungen für kreatives Arbeiten?
Organisationen, die keine offene Fehlerkultur pflegen, ermöglichen es ihren Mitarbeitern eben nicht, ins Unbekannte vorzustoßen. Sie fördern die Stagnation in der Komfortzone. Welcher Mitarbeiter wagt sich schon in Grenzbereiche, wenn er/sie weiß, dass beim ersten Fehler mit negativen Konsequenzen zu rechnen ist. In Deutschland ist die Etablierung einer offenen Fehlerkultur schwieriger, da Scheitern oft Häme auslöst, gerade bei erfolgreichen Menschen, die einmal scheitern. Hinzu kommt, dass sich auf Grund unserer Industrie- und Produktionsstärke über Jahrzehnte eine Kultur der Fehlervermeidung etabliert hat.
Wie kann man eine Fehlerkultur im Unternehmen befördern?
Die Fehlerkultur sollte Teil der Organisationskultur, der Werte und Normen einer Firma sein. Daneben bedarf es organisationaler Fehlerkompetenz, um Fehler zu "managen". In Bezug auf Fehler und Scheitern beim kreativen Arbeiten sollten Mitarbeiter emotional und mental unterstützt werden, aber auch methodisch trainiert sein. Natürlich muss diese Kompetenz nicht bei allen Mitarbeitern tief ausgeprägt sein, aber zumindest die Teamleiter sollten darin geschult sein. Dies nützt aber alles nichts, wenn die Geschäftsleitung nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Des Weiteren bietet sich eine offene Kommunikation an, also das Sprechen über Fehler und Scheitern. Warum nicht einen Organisationspreis ausrufen für das kreativste Scheitern und die Learnings daraus?
Im Brainstorming-Prozess ist Kritik unerwünscht. Wie befördere ich eine angemessene Fehlerkultur im kreativen Prozess? Was sind die Dos und was die Don’ts?
Kritik oder kritische Reflektion ist eine ganz wichtige Phase im kreativen Prozess. Vereinfachend gesagt, alternieren immer wieder im kreativen Prozess die Ideenentwicklung und die Ideenbewertung. Entscheidend ist, dass diese beiden Phasen nicht gleichzeitig stattfinden. Kritik während der Ideenentwicklung hemmt. Die kritische Ideenbewertung wird aber häufig unterschätzt. Die Auseinandersetzung mit den Ideen ist zu oberflächlich. Ich rate dann dazu, weiter zu hinterfragen, was die Idee auszeichnet, was an ihr gut ist, was eben noch nicht, wo die Möglichkeiten der Weiterentwicklung liegen. Dies ist entscheidend für das Vorankommen.
Bewertungen und Likes und Dislikes gehören zu unserer heutigen digitalen Kultur. Aber aus Angst vor Kritik halten sich viele gern zurück oder äußern nur noch Banales. Ein solches Klima sorgt nicht eben für mehr kreative Ausreißer. Wie kann man zurückhaltende Leute dennoch zu mehr kreativem Mut animieren?
Viel ist schon gewonnen, durch einen wertschätzenden und offenen Umgang miteinander. Gerade beim kreativen Arbeiten ist es wichtig, dass sich die Teilnehmer auf Augenhöhe begegnen und Hierarchie- und Machtstrukturen zumindest beim gemeinsamen kreativen Arbeiten "invisibilisiert" werden. Dies ist nicht einfach und gerade für die Führungskräfte die wichtigste Herausforderung im kreativen Prozess.
Hier geht's zum ersten Teil der Serie: "So werden Brainstormings endlich produktiv".