Was Cannes-Jurorin Diana Sukopp täglich antreibt:
"Nationale Ideen mit internationalem BÄMM!"
Warum "One size fits all" in Zeiten globaler Märkte der falsche Anspruch an das Marketing ist: Diana Sukopp, Creative Group Head bei Grabarz & Partner, plädiert für Werbeinhalte mit lokalem bis zu maximal nationalem Popkultur-Potenzial. Ein Gastbeitrag.
Letztens habe ich bei Zara minutenlang ein Sweatshirt in meinen Händen angestarrt und musste dabei die ganze Zeit innerlich schmunzeln. "One size fits all" stand da in schwarzen Lettern auf dem blütenweißen Stoffetikett. Zum einen hat das meine inneren Lachmuskeln aktiviert, weil mir bei Zara meistens mit Mühe und Not ein Schal passt. Keine Hose. Kein Sweatshirt. Bloß "Accessoires". Und zum anderen hab’ ich so eine klare Ansage schon lange nicht mehr gehört oder gelesen.
Werbung war schon einmal Teil der Popkultur
Aber wäre das heute für unsere Branche nicht ein zutreffender Anspruch? Die großen Konzerne denken bei ihrer Werbung doch längst in übernationalen Kategorien, versuchen generische Kreation einzukaufen, die überall funktioniert. Globale Etats mit globalen Strategien und globaler Exekution = effiziente Synergien von Agentur- und Produktionsspendings. Oder etwa nicht? Limitiert uns kulturelle Vielfalt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner oder bietet sie nicht eher Chancen für spezifische, relevante Werbeinhalte, die Teil der jeweiligen Popkultur werden könnten? Da, wo Werbung schon einmal vor zwei Jahrzehnten angekommen schien.
Achtung: Dies wird so etwas wie ein Plädoyer für nationale Ideen mit internationalem BÄMM. Davon gibt es bestimmt schon so einige in der Welt. Wer die alle kennt, braucht nicht weiter zu lesen. Ich hab’ da auch keine neue Zauberformel entdeckt. Nur mal so als Effizienz-Ratgeber zwischendurch. Und jetzt weiter im Text.
Emotionen sind grenzenlos. Haben keine spezifische Hautfarbe. Und eine weltweit verständliche Sprache. Wir versuchen mit unseren Geschichten Menschen zu bewegen. Zum Kauf eines Produkts oder Abgabe einer Spende oder eines Organs oder beidem. Darin unterscheidet sich mein Job hier in Deutschland nicht von dem, den ich in anderen Zeitzonen ausgeführt habe. Die Startlinie ist für uns alle gleich. Wir suchen nach innovativen, kreativen Lösungen. Allerdings mit unterschiedlichem Antrieb. Unterschiedlichem Mut. Unterschiedlicher Schnelligkeit. Unterschiedlicher Relevanz. Unterschiedlicher Reichweite.
"Wenn wir richtig in der Scheiße sitzen..."
Kreativität ist kein Buzzword der Awardshows. Kreativität ist die Fähigkeit, wie die Welt ihre Probleme löst. Wann sind wir denn am kreativsten? Wenn wir richtig in der Scheiße sitzen. Als Kind entdeckte ich das kreative Potential von Geschichten immer genau dann, wenn ich bei etwas ertappt wurde, bei dem Mitwisser eigentlich nicht vorgesehen waren. Bei den unzähligen Versuchen, anschließend das Strafmaß abzumildern, erschien mir bei Ausreden zu der Zeit eine Kombination aus Delmenhorst und "Denver Clan" am Besten. Hat nie funktioniert. Trotz großartigem emotionalen Storytelling. Meine Eltern waren eher Fans von "Ein Colt für alle Fälle". Und der Wahrheit.
Nationale Problemlöser, beeindruckend stark umgesetzt
Jedenfalls beschäftigen sich viele Cannesgewinnerarbeiten ebenfalls mit kreativen Lösungen von Problemen ihres unmittelbaren Umfelds. Der Antrieb dahinter ist nicht neu. Die Lösungen sind allerdings nicht mehr nur auf Ausreden, TVCs, Anzeigen oder Onlinefilme beschränkt. Es sind Installationen im öffentlichen Raum, Produktinnovationen oder völlig neue Ausbildungsmöglichkeiten. "Boost Your Voice", "Payphone Bank" und "School For Justice" sind hervorragende Beispiele für nationale Problemlöser in beeindruckend starker Exekution. Was? Casefilme nicht geguckt? Nachsitzen! Nichts davon würde allerdings genau so hier in Deutschland funktionieren, weil wir diese Voraussetzungen und Probleme nicht vor unserer eigenen Haustür haben. Da könnte man jetzt ein kleines "Mimimimi" raushören, aber so ist es nicht gemeint.
Kurze Unterbrechung durch die Redaktion: die Cases
"Boost Your Voice", Boost Mobile/180 L.A.
"Payphone Bank", Grey Colombia
"School for Justice", J. Walter Thompson Amsterdam
Werbung unterliegt dem Zeitgeist. Wir werden inspiriert von unseren Umfeldern. Musikalische, kulturelle, kollegiale, industrielle, familiäre, künstlerische, nationale, internationale, schriftliche, poetische, freundliche, gut gemeinte, gesendete, gehörte, ungefilterte und ausgesuchte Einflüsse. "What’s the story the press will write about?", fragt Rob Reilly (Kreativchef bei McCann) seine Leute am Anfang des Arbeitsprozesses. Interessanter Ansatz, denn das beinhaltet kulturelle Entfaltung.
Bei G&P nennen wir das "Participative Creativity". Für meine kreativen Komplizen übersetze ich das so: Bleibt offen, schaut über den Tellerrand und den großen Teich hinaus, lasst euch treiben und tragen, denkt radikal, arbeitet zusammen, atmet alles ein, nehmt es, verändert es, macht was Neues und denkt in kreativen, relevanten Lösungen. Seid scharf drauf, das Ergebnis zu zeigen, zu teilen und eurem Publikum sämtliche Körperbehaarung zu Berge stehen zu lassen.
Bitte nicht nur über das eigene Produkt reden!
Meinen Kunden empfehle ich, dass sie nicht ausschließlich über ihre eigenen Produkte reden sollen. Zumindest nicht in ihrer Werbung. Das ist wie mit Eltern, die ständig nur Bilder ihrer eigenen Kinder überall zeigen. Für sie selbst: höchst relevant. Für alle anderen: tierisch langweilig! Nils Leonard (ehemaliger Kreativchef von Grey London) hat das mal sehr schön für mich zusammen gefasst: "Think about mattering before marketing".
Zurück bei Zara
Schnitt. Währenddessen bei Zara: Ein junges Mädel zetert an der Kleiderstange hinter mir. Offensichtlich ist vorhin ein falsches Briefing an ihren Freund gegangen, indem sie ihm mitteilte, er solle ihr einfach alles bringen, was geil aussehe. Hat er brav gemacht und ungefähr 27 Teile in nicht passender Größe angeschleppt. Irritiert staucht sie ihn nun zusammen: „Korrektur! Wenn du was siehst, was an mir geil aussieht, dann bringst du mir das!“.
Die richtige Botschaft zur richtigen Zeit an die richtige Zielgruppe im richtigen Kanal zu senden, damit diese nicht genau in dem Moment den verdammten Skip-Ad-Button drückt, ist neuer Bestandteil jedes Kreativprozesses. Und längst ist die Konkurrenz nicht mehr die Agentur, die sich im Kreativranking vor einem platziert hat oder die internationalen Stars unserer Branche. Unsere Konkurrenz ist nicht weniger als die ganze Welt beginnend vor unserer Haustür. Zwei Spaßnasen, mit Smartphones und Free-Wifi-Access irgendwo auf diesem Planeten genau gerade jetzt.
Chewbacca, Foo Fighters und der Papst
Die Arbeiten, die mich fernab von Cannes und der Werbewelt am meisten in den letzten Monaten bewegt haben, waren ein Konzert der Foo Fighters mit sagenhaften 1000 Musikern in einer italienischen Kleinstadt und eine Frau, die sich über ihre Chewbacca-Maske einen Ast abgefreut hat.
Foo Fighters
Der Papst geht mittlerweile besser mit Medien und sozialen Netzwerken um, als viele CEOs und hat damit das Bild der katholischen Kirche global verändert. CEOs können also jede Menge davon lernen. Ich auch. Wer sonst schafft es auf das Cover der "Times", des "New Yorker", des "Rolling-Stone" und der Schwulen-und Lesben-Community in kürzester Zeit? Rockstar Pope Francis. Ich bin Fan. Und ich bin nicht mal katholisch.
Warum die Skip-Community gut für Werber ist
Die Zukunft der Werbung liegt irgendwo außerhalb ihrer selbst gesetzten Grenzen, denn Kreativität hat sie schon längst überwunden. Und egal, in welchem Land sie unter welchen Umständen entsteht – sie kann heute international leichter Beachtung finden als jemals zuvor. Danke, liebes Internet! Und danke an die Skip-Community da draußen – Eure Verachtung ist unser neuer, größter Antrieb und zwingt uns zu besseren, kreativeren Lösungen. "The best things in life make you sweaty" hat Edgar Allen Poe mal raus gehauen. Der musste es ja wissen, der Mann war schließlich Texter.
Ich hab’ das Sweatshirt dann am Ende übrigens nicht gekauft. Hätte da "XS passt (zu) Dir" drauf gestanden, hätte ich es allerdings sofort gemacht. Richtige Botschaft am richtigen Ort für die richtige Zielgruppe – Chance vertan.
Zur Person: Diana Sukopp, Creative Group Head bei Grabarz & Partner, war 2017 Jury-Mitglied der Direct Lions in Cannes. Internationale Erfahrung sammelte sie bei Publicis, McCann und Y&R. 2014 veröffentlichte sie ihr erstes Buch: "Buchkommadas. San Francisco, seine Straßen, George Lucas und ich"