Fernsehforschung: :
"Das Fernsehen reguliert den Gefühlshaushalt"
Ganze zehn Stunden am Tag nutzen die Deutschen Medien - mehr als die Hälfte davon Bewegtbild, zeigen aktuelle Studien. Gerald Neumüller, Director Research Seven.One Media, ordnet sie für uns ein.
Bildschirme umgeben uns den ganzen Tag und sind so selbstverständlich geworden, dass uns oft gar nicht bewusst ist, wie viel Zeit wir damit verbringen – vor allem mit dem Fernsehbildschirm, aber auch mit Smartphones, Tablets und Laptops. Die Digitalisierung ist Teil unseres Alltags geworden, Inhalte sind jederzeit und überall verfügbar, und die Haushalte in Deutschland sind entsprechend gut ausgerüstet. Fast jeder hat einen Fernseher im Haushalt, ein Großteil davon ist internetfähig. Die meisten nutzen zudem Smartphone und Computer, jeder Zweite ein Tablet. Weitere smarte Technologien verbreiten sich mehr oder weniger schnell.
Diese technischen Entwicklungen spiegeln sich in der Mediennutzung der Menschen wider. Laut Media Activity Guide verbringen Deutsche zwischen 14 und 69 Jahren mehr als zehn Stunden täglich mit Medien aller Art – über die Hälfte davon ist Bewegtbildnutzung. Der größte Anteil - mit rund vier Stunden Nutzung - fällt auf das lineare Fernsehen. Je jünger die User:innen sind, desto mehr Zeit verbringen sie im Internet - die 14- bis 29-Jährigen fast vier Stunden täglich. Die kostenlosen (z.B. YouTube, Mediatheken) und kostenpflichtigen (z.B. Netflix) Video-on-demand-Dienste haben vor allem in jüngeren Altersgruppen den größten Anteil an der inhaltlichen Internetnutzung.
Der Fernseher als Wohlfühl-Oase
Obwohl die verfügbare Technik Videonutzung nach der Devise "Anytime & Anywhere" erlaubt, zeigt die Realität, dass man Bewegtbild zum allergrößten Teil auf dem "Big Screen" schaut – im Jahr 2020 durchschnittlich mehr als vier Stunden. Zum Vergleich: Die Videonutzung auf Smartphone und Laptop beträgt je 17 Minuten, auf dem Tablet sind es 6 Minuten. Der Fernseher ist die heimische Entertainment- und Wohlfühl-Oase, hauptsächlich für Live-TV, aber auch für Netflix & Co. Für zahlungspflichtige Video on demand-Angebote ist der große Bildschirm das wichtigste Endgerät, YouTube und andere kostenlose Streaming-Plattformen mit eher kurzformatigen Inhalten hingegen nutzt man mehr auf mobilen Devices.
Während der Corona-Pandemie stieg die Videonutzung in allen Altersgruppen deutlich. Im März 2020 lässt sich die Entwicklung zwischen erster und zweiter Monatshälfte – also vor und während des ersten Lockdowns – eindrucksvoll ablesen. Die TV-Nutzung stieg in der zweiten Märzhälfte um 31 Minuten. Auch kostenlose (+4 Minuten) und kostenpflichtige (+8 Minuten) VOD-Angebote legten deutlich zu. Das liegt an dem in Krisenzeiten besonders ausgeprägten Wunsch nach seriöser Information, aber auch an einem verstärkten Bedürfnis nach Ablenkung und Flucht in "normale", sorgenfreiere Welten. Außerdem verfügten viele Menschen im Lockdown über mehr freie Zeit. Das Jahr 2020 war das Jahr des Fernsehens! Der Grund dafür waren aber nicht nur mehr Zeit und Informationsbedarf, sondern auch die spezifischen Funktionen des Mediums.
Fernsehen stellt einerseits eine entspannte, wohltuende Lean-back-Verfassung her, die das gesamte Spektrum zwischen sanfter Berieselung tagsüber und wohltuender Lagerfeueratmosphäre beim abendlichen Live-Event umfasst. Andererseits liefert das lineare Fernsehen mit seinem Angebot aus Nachrichten, Lokalem, Unterhaltung und Events gerade in der Corona-Zeit eine wichtige Strukturierung des Alltags und gibt den Menschen einen Rahmen und Orientierung. Die gesellschaftliche Bedeutung des Fernsehens zeigt sich in Ausnahmezeiten besonders deutlich, denn es bietet psychologische Entlastung und zugleich seriöse, faktenbasierte Informationen.
Kognitive und emotionale Abkürzung
Interaktive digitale Plattformen bedienen hingegen meist andere Bedürfnisse. YouTube zum Beispiel liefert rasche Lebenshilfe mittels Tutorials und "how-to"-Clips, die den Nutzern eine kognitive Abkürzung anbietet – oder auch eine emotionale Abkürzung, wenn mit kurzen, lustigen Videos schnelle Ablenkung und Entspannung gesucht wird. Netflix schließlich unterstützt in besonderem Maße das Bedürfnis nach Eskapismus und den kompletten Ausstieg aus dem Alltag – zumindest für eine gewisse Weile. Das gelingt natürlich am besten bei einem qualitativ hochwertigen Rezeptionserlebnis, was den hohen Anteil der Pay VOD-Nutzungsdauer auf dem großen Fernsehbildschirm erklärt.
Die psychologischen Prozesse, die die Medienwahl steuern, erklären, warum Videoangebote eine so große Rolle in unserem Alltag spielen, allen voran das lineare Fernsehen, das konkrete und wichtige Funktionen erfüllt: Es gibt Struktur und Orientierung und hilft uns, unseren Gefühlshaushalt auch in außergewöhnlichen Zeiten zu regulieren.
Über den Autor: Gerald Neumüller ist Director Research Seven.One Media.