Agile Prozesse:
Post-its und Flipcharts bleiben wichtig
Agilität darf nicht mit höherer Geschwindigkeit - und damit verbunden mehr Kaffeekonsum gleichgesetzt werden. Seine Erfahrungen aus der Praxis schildert Till Winkler, Skopos.
Guten Tag, wir brauchen Marktforschung. Aber bitte agil! Das ist uns wichtig. Ein Satz, der in ähnlicher Form bestimmt schon vielen Lesern begegnet ist. Für Till Winkler, Leiter der Skopos eigenen UX Research Unit, ist eine solche Konversation Alltag. In einem kurzen Appell, basierend auf seinen Erfahrungen der letzten 18 Monate, möchte er Unternehmen und Agenturen zwei wichtige Gedanken mit auf den Weg geben. Dabei haben die folgenden Zeilen etwas mit Geschwindigkeit, der Fähigkeit des Umdenkens und vor allem Kaffee zu tun.
Im vergangenen Jahr waren wir auf unterschiedlichen Konferenzen und Kongressen, um darüber zu sprechen, wie wichtig und bedeutsam agile Vorgehensweisen in der Marktforschung sind und sein müssen. Als wir im Mai 2016 zum ersten Mal, in Berlin auf der großen Bühne des BVM Kongresses darüber sprachen, waren wir doch eher die Outsider. Alle anderen Vorträge beschäftigten sich mit der Digitalisierung und wie diese die Marktforschung langsam verdrängen würde. Wir waren an der Stelle die ersten, die Eric Ries ("The LEan Startup") und Jeff Sutherland ("Erfinder" von Scrum) vor sich hertrugen.
In der zweiten Jahreshälfte 2016 reisten wir weiter durch die Welt, waren in New Orleans, München und Amsterdam, und immer mehr entwickelte sich "agil" zu einem Buzzword, dass mal hier und mal da zu finden war. Vor allem im Kontext der Marktforschung. Für mich fühlt es sich inzwischen fast merkwürdig an, über das Thema zu sprechen, denn mir gefiel die Rolle des Underdogs so sehr. Das Problem mit allgemein verwendeten Begrifflichkeiten ist, dass man nur schwer zurück zum Ursprung findet, zur eigentlichen Bedeutung. Sobald es einmal in aller Munde ist, bauen sich Definitionen und vor allem Ansprüche und Erwartungen auf und verselbstständigen sich.
Und als Leiter einer Agentur macht mir dies ein wenig Sorgen. Denn, und das ist nicht nur meine Meinung, gibt es in letzter Zeit eine Kluft zwischen dem, was agile Prozesse sein sollen und dem, wie sie oft verstanden und kommuniziert werden. Aus diesem Grund möchte ich gerne zwei Aspekte aufgreifen, die viele Unternehmen (egal ob Kunden oder Agenturen) aus meiner Sicht beachten können.
1. Agilität betrifft die Geschwindigkeit von Prozessen – natürlich.
Aber, wenn man sich den Ursprung von agilen Prozessen anschaut, geht es doch viel mehr um Flexibilität und Automatisierung. Letzteres könnte man auch als digitale Geschwindigkeit verstehen und das ist auch in Ordnung, denn Maschinen und Computer haben nichts dagegen, Überstunden zu leisten. Diese Überstunden korrelieren dann auch nicht mit exzessivem Kaffeekonsum. Also, Win-Win.
Automatisierung hilft uns Menschen und Marktforschern, Zeit und Geld in Prozessen zu sparen, bei denen uns Computer ohnehin überlegen sind. Und es gibt eine Vielzahl von tollen und einfachen Tools und Services da draußen, die uns unterstützen und helfen können. Dennoch scheinen viele einfach nur auf den menschlichen Aspekt der Geschwindigkeit einzugehen, und das führt in der Tat zu Überstunden, nicht haltbaren Timings, Wochenendarbeiten und wiederum zu einem exzessiven und sehr ungesunden Kaffeekonsum.
Aber wie lösen wir das Dilemma nun? Geht raus, sucht euch digitale Helfer oder schafft sie selber. Versucht Prozesse zu finden, die Zeit kosten, nicht effektiv durch menschliche Hände gestaltet werden können und letztlich nichts mit der wahren Wertschöpfung zu tun haben: Ergebnisse interpretieren, Stories finden und Insights herausziehen. Es ist oft nicht ganz einfach, umzudenken. Aber genau dieser Aspekt – UMDENKEN – ist einer der wichtigen Erfolgsfaktoren, wenn es um die Einführung agiler Arbeitsweisen geht. Neue Methoden und der Einsatz von Tools und Services sind ebenfalls wichtig, aber wer sich nicht geistig darauf einstellt, anders zu arbeiten, der wird Agilität wohl meistens weiterhin mit Geschwindigkeit verwechseln.
2. Also, gerade hinsetzen und Füller rausholen!
Zusätzlich zu der Überarbeitung der Prozesse und Einarbeitung von neuen technischen Möglichkeiten und Angeboten (und natürlich dem Umdenken) wir müssen auch noch einmal das Klassenzimmer aufschließen und die Bücher aufklappen.
Wenn Kunden schnelle Ergebnisse benötigen, um bei der Entwicklung von Produkten und Services zu helfen, dann müssen wir die Erwartungen etwas anders definieren, die noch aus der Zeit stammen als 3 bis 4 Wochen Zeit für die Auswertung und die Darstellung in PowerPoint vorgesehen waren. Ich will nicht sagen, dass weniger Zeit auch mit geringer Qualität gleichzusetzen ist. Keinesfalls. Aber wenn wir morgens Interviews durchführen, um abends KPI-Charts zu liefern, eine kurze Ergebnispräsentation zu halten und mit dem Team am nächsten Morgen über die nächsten Schritte zu sprechen, dann ist es eben ein neues Spiel. Dann müssen wir uns gemeinsam darauf einstellen, dass es eben keine 4 Abstimmungsschleifen für den Fragebogen gibt und auch keine Folienentwürfe. Bei agilen Ansätzen stehen die Erkenntnisse im Vordergrund und auf diese alleine kommt es an. Für diese sollte man etwas Platz schaffen. Wir brauchen mehr Raum für Inhalt, weniger Raum für Formatierung.
Ich habe an dieser Stelle schon fast alle Fehler gemacht, die man machen kann. Zu Beginn meiner agilen Arbeit habe ich versucht, die bestehenden Prozesse einfach nur schneller abzuarbeiten. Aber das geht einfach nicht. Letztlich geht es um Erwartungsmanagement. Wenn das Timing für Präsentationen zu eng sind, rate ich dazu, sich in Ruhe Gedanken zu machen (!), Post-Its, Stifte und ein paar Flip-Charts einzupacken und gemeinsam mit dem Kunden zu erarbeiten. Wer sich auf die Inhalte konzentriert, kann auch darauf verzichten, ein 40 seitiges Dokument zu erstellen.
Im Übrigen führt gerade diese Veränderung im Projektablauf dazu, dass Unternehmen und Agentur näher zusammenrücken. Denn wenn man nicht viel Zeit hat, muss man sich auf Partner verlassen können, die genau wissen was man warum braucht und wie man am besten an die Erkenntnisse rankommt.
Der Stretch zwischen agilen Prozessen und dem Festhalten an bestehenden Erwartungen und Erfahrungen ohne Kompromisse wird auf lange Zeit nicht zufriedenstellend sein. Dabei sind agile Prozesse sehr spannend. Sie fokussieren das, was wirklich zählt: Den Inhalt. Und wenn man sich nicht mehr an Folien, Feedback-Schleifen und Formatierungen festhalten kann, dann hat man die Komfortzone verlassen. Und das ist auch richtig so. Agilität ist wichtig, wird immer wichtiger, und es ist eine Herausforderungen, die wir annehmen müssen. Abschließen kann man diese Gedanken mit einem schönen Zitat von Pearl Zhu (Autor von Digilizing Boardroom), die sagte "Agile is not just a methodology, but a set of principles and philosophy." In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß und Erfolg beim Umdenken, Philoshopieren und Erkenntnisse-Sammeln.
Über den Autor:
Till Winkler, 31 Jahre alt und Leiter der Skopos-eigenen UX Research Unit beschäftigt sich bereits seit 2014 mit dem Bereich agiler Forschung. Er hat hierzu eine Vielzahl von Vorträgen auf nationaler und internationaler Ebene gehalten und arbeitet mit Kunden aus unterschiedlichen Branchen, von Telekommunikation bis Automotive, von FMCG bis zu Pharmaindustrie. Die eigene UX Research Unit beschäftigt sich mit den Bereichen UX Research, Service Design und UX Concepting!