Feminismus beim ESC - und Schulte auf Platz vier:
Die Reaktionen zum Eurovision Song Contest
Der Beitrag aus Deutschland landet dieses Jahr nicht am Ende der Liste. Und eine Hymne aus Israel, die das Anderssein und die Freiheit der Frauen feiert, gewinnt. Die Bilanz:
Die Misserfolgsserie der ESC-Songs aus Deutschland ist gestoppt: Michael Schulte belegte beim Eurovision Song Contest (ESC) den vierten Platz. Der deutsche Beitrag war in "Unser Lied für Lissabon" ausgewählt worden. Das Konzept für den Vorentscheid hatte die ARD nach den schlechten ESC-Platzierungen der Vorjahre überarbeitet.
Mit Erfolg, wie es scheint. Für Deutschland ist es die beste Platzierung seit Lenas Sieg vor acht Jahren. In den vergangenen drei Jahren landete die Bundesrepublik, die bisher zweimal gewann (2010 mit Lena und 1982 mit Nicole) stets ganz weit hinten. Im Social Web hatten die Trends übrigens danach ausgesehen, als hätte Schulte große Chancen, besser abzuschneiden als die deutschen Beiträge in den vergangenen drei Jahren. Den Sieger hatten sie allerdings auch nicht so weit vorn dabei. (2017 war es genau umgekehrt gewesen. So viel zu den hellseherischen Fähigkeiten von Netzanalysen.)
Michael Schulte kam gut an im Social Web. Wie eine Auswertung von der Social-Media-Monitoring-Plattform Talkwalker für W&V zeigt, war die Stimmung in Beiträgen zum deutschen ESC-Vertreter durchweg positiv (32 Prozent) und neutral; nur 3 Prozent der Kommentare fielen negativ aus. Mehr als 5000 verschiedene Menschen erwähnten den Musiker rund 17.500-mal.
Gewinnersong aus Israel polarisiert
Gewonnen hat den Musikwettbewerb am Samstagabend die Vertreterin aus Israel, Netta mit dem Titel Toy. Es ist der vierte Sieg Israels in der Geschichte des ESC - zuletzt gewann vor 20 Jahren die Sängerin Dana International.
Der Song Toy, der Korea-Pop, Hip-Hop und orientalische Elemente mit Stimmeffekten und Gacker-Klängen verbindet, hat eine Botschaft vor allem an Frauen: Nehmt euch an, so wie ihr seid, und seid stolz auf euch selbst. Ihr seid nicht das Spielzeug (toy) von Männern. In der Presse wurde der erste Platz für Toy vielfach als Folge der neuen Feminismusbewegung nach #MeToo gesehen.
Natürlich ist Musik immer Geschmackssache. Auftreten und Botschaft von Netta wurde darüber hinaus aber von etlichen Zuschauern nicht goutiert - ein Twitter-Beitrag fasst das zusammen:
Talkwalker misst für Netta 12 Prozent negative Erwähnungen im Social Web - von 170.000. 26 Prozent waren klar positiv.
Nettas ESC-Video (oben) hat inzwischen bereits mehr als 35 Millionen Aufrufe bei Youtube. Zum Vergleich: Satellite von Lena sammelte seit 2010 rund 57 Millionen Abrufe.
Auf Platz zwei hinter Israel kam in diesem Jahr Zypern gefolgt von Österreich. Hinter Deutschland landete Italien auf dem fünften Platz. Die Zuschauer konnten wie immer über den Sieger mit abstimmen, jedoch nicht für die eigene Nation. Ihr Voting wurde ergänzt von nationalen Jurys. Die Punkte aus Deutschland gab Barbara Schöneberger bekannt - die Höchstwertung zwölf Punkte gab es für Schweden. In der Jury waren diesmal die zweimalige Grand-Prix-Teilnehmerin Mary Roos, die Sänger Max Giesinger und Mike Singer, die Songschreiberin Lotte sowie der Revolverheld-Manager Sascha Stadler.
"Platz vier, oh mein Gott", sagte der norddeutsche Sänger Schulte zufrieden und strahlend im Anschluss zu Moderatorin Schöneberger im ARD-Fernsehen. "Das ist so verrückt." Der 28-Jährige bekam für seinen Song You let me walk alone, in dem es um den Tod seines Vaters geht, von Jurys und Publikum aller Teilnehmerländer 340 Punkte. Die Siegerin Netta erhielt 529 Punkte.
Schleswig-Holsteins Kulturministerin Karin Prien (CDU): "Ein authentischer Auftritt, ohne Show und Pomp. Und ein eindringlicher Text, über Familie, Bindung und Verlust, alles andere als banal." Schulte verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Dollerup bei Flensburg. "Wahnsinn!!!", schrieb Dollerups Bürgermeister Peter-Wilhelm Jacobsen auf der Internetseite der Gemeinde.
ARD mit dem ESC zufrieden
ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber: "Das war ein schöner Abend für den Künstler, das Team und wie ich hoffe auch für die Fernsehzuschauer. Für viele Kritiker mag das Ergebnis überraschend gewesen sein. Wir wussten, was wir auf die Bühne bringen wollen und haben an die Kraft des Künstlers und die Inszenierung geglaubt." Auch mit den Marktanteilen sei er zufrieden.
Die 3 Stunden und 50 Minuten lange Live-Übertragung verfolgten im Ersten 7,71 Millionen Zuschauer, weitere 0,50 Millionen auf dem ARD-Digitalsender One. Der Marktanteil lag bei zusammen 34,4 Prozent. In den Jahren 2010 und 2011 hatten allerdings noch 14,73 Millionen und 13,93 Millionen Zuschauer eingeschaltet. "Wir müssen schauen, dass wir das Ergebnis in den nächsten Jahren stabilisieren", sagte Schreiber.
Das Interesse ist in den vergangenen Jahren tendenziell rückläufig. Die vergleichsweise gute Platzierung des deutschen Teilnehmers Michael Schulte am Samstagabend hat daran nichts geändert.
- 2009: 7,33 Millionen Zuschauer
- 2010: 14,73 Millionen Zuschauer
- 2011: 13,93 Millionen Zuschauer
- 2012: 8,34 Millionen Zuschauer
- 2013: 8,20 Millionen Zuschauer
- 2014: 8,90 Millionen Zuschauer
- 2015: 8,09 Millionen Zuschauer
- 2016: 9,38 Millionen Zuschauer
- 2017: 7,85 Millionen Zuschauer (Das Erste; + 0,21 Mio. bei One)
- 2018: 7,71 Millionen Zuschauer (Das erste; +0,5 Mio. bei One)
Beim Auftritt von Michael Schulte waren es nach Angaben des NDR 8,89 Millionen. Der Marktanteil bei den 14- bis 29-Jährigen lag bei sehr guten 48,9 Prozent.
Im ZDF ab 20.15 Uhr sahen 4,21 Millionen (16,1 Prozent Gesamtmarktanteil) die Wiederholung des "Wilsberg"-Krimis "Bittere Pillen". Die RTL-Show "Die schönsten Fernsehmomente Deutschlands" erreichte 1,54 Millionen (6,7 Prozent). Auf Sat.1 sahen 1,14 Millionen (4,3 Prozent) "Merida - Legende der Highlands", auf Kabel eins 0,80 Millionen (3,2 Prozent) die Krimiserie "Hawaii Five-0", auf ProSieben 0,72 Millionen (2,7 Prozent) die Horrorparodie "Scary Movie 5", auf ZDF Neo 0,65 Millionen (2,5 Prozent) den Krimi "Lewis: Das Rätsel des Genies" und auf Vox 0,60 Millionen (2,3 Prozent) die TV-Komödie "Ted".
Im ESC-Finale konkurrierten 26 Länder mit ihren Kompositionen. Beim Auftritt der britischen Kandidatin Surie stürmte ein Störer die Bühne und entriss der Sängerin das Mikrofon, er wurde von Sicherheitsleuten weggebracht. Die souverän weitersingende Surie lehnte eine Wiederholung ihres Auftritts ab.
Bei dem Störer handelt es sich britischen Medien zufolge um einen Rapper und politischen Aktivisten aus London. Der Mann stürmte schon mehrfach bei Live-Fernsehsendungen die Bühne. Nach einem Bericht des "Mirror" verurteilt der Rapper kommerzielle Popmusik und wirft Medien Korruption vor. Dem Sender BBC zufolge rief er "For the nazis of the UK media, we demand freedom" (deutsch: Für die Nazis der britischen Medien: Wir verlangen Freiheit!).
Netanjahu und Rowling twittern zum ESC
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu gratulierte Netta zu ihrem Sieg. "Netta, du bist ein echter Schatz", schrieb er bei Twitter. "Du hast dem Staat Israel viel Ehre eingebracht! Nächstes Jahr in Jerusalem!" Das ist auch ein Politikum: Israel beansprucht ganz Jerusalem als seine Hauptstadt. Dies ist international umstritten.
Mit rund 39.000 Tweets pro Minute hat der Auftritt von Dänemark und seiner düsteren Wikinger-Band Rasmussen (Higher ground) für den meisten Gesprächsstoff auf Twitter gesorgt. Das Land kam am Ende auf den neunten Platz. Weitere Top-Twitter-Momente gab es rund um die Siegerin Netta. Es ging um die Bekanntgabe von Israel als Gewinner des #ESC2018 (etwa 38.000 Tweets pro Minute) sowie um den Auftritt der außergewöhnlichen Sängerin (rund 37.000 Tweets pro Minute).
Den Störer im britischen Beitrag von Surie kommentierte Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling: "Das ist für jeden, der mal auf der Bühne gestanden hat, der schlimmste Alptraum."
Die Autorin hat den ganzen ESC-Abend via Twitter begleitet und gratulierte der "verdienten Gewinnerin".
1,2 Millionen Erwähnungen im Social Web
Zwischen 7. Mai und 13. Mai (dem Tag nach dem ESC-Finale) gab es 1,2 Millionen Erwähnungen des ESC - mit und ohne Hashtags. Vor einem Jahr waren es noch 1,7 Millionen gewesen.
Anlässlich der Halbfinales (am 9. und 11. Mai) lag der Social Buzz bei je rund 35.000 - zum Finale bei 233.000 Erwähnungen. Die Zahlen ermittelte Talkwalker für W&V. Fast zwei Drittel der ESC-Kommentatoren äußerten sich auf Twitter (64,5 Prozent), Instagram kommt auf ein knappes Drittel, Blogs, Onlinenews und Facebook spielten kaum eine Rolle.
Der Top-Tweet (auf Deutsch) kam von Lukas alias @Hashonaut:
Hinter Hand of Blood und Katharina Isabel platzierte sich Jan Böhmermann mit diesem Tweet in den Top 5 der deutschen Twitter-Beiträge zum ESC nach Reichweite und Interaktionen.
Platz fünf belegt die Satireplattform Postillon.
Die aktivsten Social-Media-Kommentatoren beim Eurovision Song Contest 2018 hatten Spanien (21,3 Prozent) und die USA (16,3 Prozent der Erwähnungen kamen von dort). Platz drei belegt Großbritannien (14,3 Prozent) deutlich vor Deutschland (7 Prozent) und Italien (6,1 Prozent).
Und hier noch ein paar Reaktionen auf den #ESC2018:
Wer schon mit einem ganz schlechten Abschneiden des deutschen ESC-Beitrags gerechnet hatte, war unter Umständen enttäuscht.
(W&V/mit dpa)