
Marketing-Theorie:
Wirtschaftliches Überleben in der Coronakrise ist kein Zufall
Es gibt zwei Arten von Unternehmen in der Coronakrise: Die einen agieren, die anderen reagieren. Die einen überleben, die anderen nur, wenn sie Glück haben. Marketingprofessor Jan Lies erklärt die Theorie dahinter.

Foto: Ahmet Sali, Unsplash
Ein Virus legt die Weltgesellschaft lahm. Angesichts von kollabierenden Gesundheitssystemen, gut einer Million Infizierten und mehr als 55.000 Toten weltweit, erscheint es unethisch zu sein, die Potenziale der Krise aus Marketing-Sicht zu betrachten. Doch das unterschiedliche Marketing-Verhalten von Unternehmen zeigt, dass die Krisenkompetenz von Unternehmen sehr unterschiedlich verteilt ist: Die einen schließen ihre Türen und rufen nach staatlicher Hilfe, die anderen starten Innovationen in Form neuer Produkte oder Services. Ist diese Entwicklung Zufall?
Marketing-Planung: Eine Illusion für Schönwetter-Manager
Krisenmarketing wird oftmals als reaktive Taktik verstanden. Auch in der Corona-Krise scheint es bei vielen Unternehmen zuerst um Abwicklung und Budget-Kürzung zu gehen: Solche Unternehmen arbeiten nach der Systemtheorie erster Ordnung und folgen entsprechend dem typischen Planungsprozess, den man mit einem geschlossenen Regelkreis von Maschinen vergleichen kann:
Dreht man an Planungsschrauben, öffnen sich Kundenkanäle und Aufträge kommen herein – und umgekehrt. Unternehmen, die in der Tradition dieses herkömmlichen Inside-out-Planungsparadigmas arbeiten, haben pures Glück, wenn sie aktuell zu den Krisengewinnern gehören. Einige können sich vor Aufträgen nicht retten. Sie profitieren von Sonderkonjunkturen wie etwa viele Lebensmittel-, Hygiene-, Pharma- und Gebrauchsgüterhersteller.
Andere Unternehmen kämpfen ums Überleben. Ohne Rücklagen schließen viele Gastronomen, weil die Kundschaft ausbleibt. Andere werden vom Gesundheitsamt geschlossen. Planbar war beides nicht. Planung ist nur für stabile Dynamik geeignet, die es in Zeiten von Eurokrise, Schuldenkrise und jetzt Coronakrise in vielen Märkten nicht mehr gibt. Stattdessen herrschen disruptive Veränderungen. Darum braucht Marketing Steuerungsalternativen.
Systemtheorie als Analyse- und Strategierahmen in der Corona-Ära
Die zwei Level der Systemtheorie:
- Systemtheorie als Kybernetik erster Ordnung: Systeme als Regelungskreisläufe (Inside-out-Denken)
- Systemtheorie als Kybernetik zweiter Ordnung: Systeme als Organismen, die sich nach eigenen Regeln selbst organisieren und hierfür stets sich selbst und ihr Umfeld beobachten. (Inside-out- und Outside-in-Denken)
Der Erfolg von Unternehmen in der Coronakrise ist kein Zufall
Die Systemtheorie zweiter Ordnung hat sich auf die Suche nach alternativen Steuerungsinstrumenten gemacht und bietet dafür eine Analyse- und Strategierahmen an. Wenn es überhaupt „die“ Systemtheorie gibt, lässt sie sich in eine Kybernetik erster und zweiter Ordnung unterscheiden. Die Kybernetik erster Ordnung folgt, wie oben erwähnt, dem klassischen Planungskreislauf.
Die Kybernetik zweiter Ordnung versteht sich als Ergänzung hierzu. Sie folgt der Idee von Systemen als lebenden Organismen, die stetig ihr Immunsystem stärken müssen, um zu überleben. Unternehmen, Marken-Communities, Kundengruppen – alle Gruppen, die sich von anderen abgrenzen, sind Systeme. Auch jenseits von Krisen stößt das Marketing täglich auch auf geschlossene Systeme, in die es nicht intervenieren kann: Skandale, Shitstorms, Online-Communities sowie Markenfans sind nur einige bekannte Beispiele hierfür.
Hier setzt das systemische Marketing an. Wenn sich Systeme nicht steuern lassen, so kann das Marketing sie doch beeinflussen und für seine Zwecke nutzen, wenn man nur an Co-Creation-Aktionen mit Marken-Crowds denkt. Folgt man zentralen Ideen der Kybernetik 2.0 beobachten sich Systeme stets gegenseitig und leiten so ihre Aktionen ab. Hier wird auch der Analyserahmen von Systemtheorie deutlich, indem Unternehmen stetig ihr Umfeld beobachten, um ihre Marken weiterzuentwickeln. Ist das nicht reine Theorie? – Nein, denn der Erfolg von Unternehmen in der Coronakrise ist kein Zufall.
Die Coronakrise wird zum Innovationspool
In der Praxis zeigen sich die Unterschiede so: Die traditionsreiche Kornbrennerei ruft nach staatlichen Zuschüssen, um die drohende Insolvenz abzuwenden. Die systemisch geführte Brennerei sattelt dagegen von Getränken auf Alkohol für Desinfektion um, nachdem bei Facebook Engpässe von Kliniken gepostet wurden. Die eine Werkstatt macht zu. Die andere holt Fahrzeuge oder Drahtesel ab, repariert und liefert wieder aus. Der Mittagstisch in der Gastronomie fällt nicht aus, sondern wird zum erfolgreichen Bringdienst.
Während die Fans namhafter Marken zum Boykott aufrufen, weil bestimmte Markenunternehmen die Mietzahlungen ihrer geschlossenen Filialen einstellen, profitieren systemisch geführte Marken von der Corona-Krise. Fitnessstudios bieten Home-Workouts via Video. Webinar-Angebote werden zum Hit, auch um die Zeit im Homeoffice besser zu nutzen. IT-Dienstleister stellen Konferenz-Software zum Teil komplett kostenfrei zur Verfügung. Social Media-Gruppen werden zu einem sich in Echtzeit aktualisierenden Ideenpool für neue Produkte und Services. Marken, die digital vernetzt sind, beobachten automatisch ihr Umfeld. Sie leben den interaktiven Markendialog, der sie als Immunstärke mit Innovationsimpulsen auch bei Schlechtwetter schützt.
Agil Handeln wird zum Marketing-Krisenparadigma
Diese Beispiele zeigen, dass systemisches Marketing zentral auf Selbststeuerung durch ihre Communitys setzt. Nicht Reaktion, sondern Aktion wird so zum Marketing-Krisenparadigma. Das klingt für klassisch studierte Betriebswirte vielleicht abwegig, weil Steuerung doch gerade die Kernkompetenz des Managers darstellt. Genau hier setzt aber die Kritik in disruptiven Zeiten an.
Herkömmliche Planung von innen nach außen („Inside-out-Paradigma“) muss scheitern, wenn sie nicht Impulsen von außen nach („Outside-in-Paradigma“) innen ergänzt wird. Die Digitalisierung macht diese Umfeldbeobachtung und Interaktion besonders einfach. Auch wenn die Formulierung in der aktuellen Zeit ethisch belastet ist, betreiben sie virales Marketing als erfolgreiche Sozialtechnik. Corona mutiert so zu einer Kundengewinnungs- und -bindungsoffensive.
Was wir daraus lernen:
- Selbststeuerung ergänzt Steuerung: die klassische Inside-out-Planung funktioniert in disruptiven Zeiten nur zufällig. Sie bleibt die Ausgangsbasis des Marketings, wird aber durch eine Outside-in-Marketingkultur ergänzt. Dafür gibt das Management Kontrolle ab.
- (Digitale) Beobachtung: Beobachtung hieß früher vor allem Marktforschung. Sie bleibt wichtig, wird aber durch täglichen Markendialog in Social Media zu einem Ersatz in Zeiten von Social Distancing, um die Ideen aus Branche, Umfeld und Community täglich zu monitoren.
- Echtzeit-Kompetenz: Realtime-Marketing wird oft technisch gelebt, indem Marketing-Technik wie digitales Pricing in Millisekunden reagiert. Marketing braucht aber eine soziale Echtzeitkompetenz, um auf Themen des Tages und Initiativen der Crowd zu reagieren. Die sozialen Netzwerke sind ein gigantischer, kritischer Pool neuer Ideen.
- Agile Marketing-Kultur: Agilität wird vor allem als dynamisches Projektmanagement angewandt. Tatsächlich hilft dies in der Krise nur, wenn Agilität gelebte Unternehmenskultur ist, so dass Outside-in als stete Innovations- und Service-Initiative verankert wird.
Jan Lies ist Professor für BWL an der FOM Hochschule in Dortmund. Er lehrt insbesondere Unternehmenskommunikation und Marketing.