Multichannel:
Wie Customer Centricity im Einzelhandel funktioniert
Multichannel ist mehr als nur ein weiterer Kanal. W&V-Autor Bernd Rubel erklärt, worauf es bei kundenzentriertem Verkauf wirklich ankommt.
Die Erfolgsgeschichte großer Onlineshops wie Amazon sorgen für ein verzerrtes Bild der Realität: Der weitaus überwiegende Teil alle Einkäufe findet nämlich immer noch im stationären Einzelhandel statt. Aber: Rund 92 Prozent aller Konsumenten nutzen vor oder während ihres Einkaufs ein digitales Gerät - nicht immer, aber oft zur Produkt- und Preisrecherche, in vielen Fällen zur Kaufanregung. Der immer noch weit verbreitete Mythos, dass Kaufentscheidungen nach wie vor im Ladenlokal getroffen werden, ist längst überholt.
Denn auch die klassische Beratung vor Ort empfinden immer weniger Kunden als wichtig (und hilfreich), ein stetig wachsender Teil bevorzugt die Information über digitale Kanäle. Nur noch rund 35 Prozent der Kunden lassen sich traditionell im Geschäft beraten, mit sinkender Tendenz. Nicht zuletzt wegen der Diskrepanz aus Erwartung und tatsächlichem Erlebnis vor Ort wechseln die Kunden situativ die Einkaufsmöglichkeiten und Informationswege, die ihnen gerade zur Verfügung stehen.
Der Kunde 4.0 weiß, was er will
Eine steigende Zahl von Kunden ist sich dementsprechend bereits vor dem Betreten eines Geschäfts sicher, welches Produkt sie kaufen möchten. Das ist eine Chance für den Einzelhandel, denn das individuell wahrgenommene Kaufrisiko hat der Kunde in diesem Moment auch bei höherpreisigen Produkten bereits eigenverantwortlich abgewägt.
Wenn sich Verkäufer mit diesen gut informierten Kunden konfrontiert sehen, verfallen sie gelegentlich in ein produktzentriertes Schema: In Worst Case Szenarien wollen sie den Kunden von einer bereits getroffenen Entscheidung abbringen. Tatsächlich aber steht der Einzelhandel vor der Herausforderung, sich bereits im Rahmen des Entscheidungsprozesses zu positionieren, um dann letztendlich den Kundenwunsch möglichst exakt - oder, Königsklasse, sogar die Erwartungen übertreffend - zu erfüllen. Wenn die Produktwahl bereits getroffen ist und die allein daraus resultierende Zufriedenheit nicht mehr vor Ort eintritt, kann sich der Handel vor- und nachher beweisen.
Das mittlerweile zumindest bei größeren Einzelhändlern etablierte Omnichannel-Konzept ist ein erster, aber immer noch ausbaufähiger und gelegentlich korrekturbedürftiger Ansatz. Denn die Kehrseite der Medaille ist, dass viele Einzelhändler dem Missverständnis unterliegen, sie müssten im Zuge der Digitalisierung nur ihre Vertriebskanäle ändern. Damit setzen sich viele Einzelhändler ungewollt einem Konkurrenzdruck aus, denn die online zu erzielenden Margen werden von den reichweitenstarken Shoppingriesen bestimmt.
Von der der Produktrecherche zur Shop-Empfehlung
Weitaus vielversprechender - wenn auch gelegentlich aufwändiger - ist ein Umdenken, das den Kunden und sein Verhalten in den Mittelpunkt stellt. Ein konsistentes und möglichst kundenindividuelles Erlebnis auf allen Kanälen und über die außerhalb des Ladenlokals verstreichende Entscheidungsdauer hinweg ist das Ziel. Wer die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt am "Point of Decision" ausspielt und damit das situative Bedürfnis des Kunden auf der Customer Journey erfüllt, gewinnt am "Point of Sale".
Das beginnt bei der Produktrecherche, erstreckt sich über die Verfügbarkeit und endet bei der Bezahlmöglichkeit. Nein, falsch: Es endet bei der Reklamation oder der Empfehlung des Geschäfts und Produkts im Bekannten- und Freundeskreis, z.B. in den Sozialen Netzwerken. Die Beratung vor Ort, jahrelang das Alleinstellungsmerkmal des Fach- und Einzelhandels, rückt hingegen immer mehr in den Hintergrund.
Insbesondere Location-based Services werden in den kommenden Jahren maßgeblich den Erfolg eines Einzelhändlers bestimmen. Mehr als die Hälfte aller Konsumenten informieren sich bereits heute über standortbezogene Dienste über die Verfügbarkeit von Produkten vor Ort. Dabei verschwinden über lange Jahre etablierte Grenzen zwischen den Produkt- und Preisgruppen: Nicht mehr nur impulsiv getroffene Kaufentscheidungen, sondern auch langfristig geplante Anschaffungen will der Kunde "plötzlich" an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit tätigen.
In diesem einen Moment steht der klassische Kaufprozess da, wo sich der Einzelhandel viele Jahrzehnte erfolgreich positionieren konnte: Der Kunde sucht "irgendein" Geschäft, in dem er - und nur das ist neu - ein ganz bestimmtes Produkt erwerben kann. Im Idealfall ist dem Konsumenten im Rahmen seiner Produktrecherchen ein in seinen Augen vertrauenswürdiger Anbieter aufgefallen und in Erinnerung geblieben, der dieses Produkt "jetzt und hier" zu einem akzeptablen Preis anbietet.
Entscheidend ist, dass in diesem Moment alle anderen möglichen Fragen bereits geklärt sind oder die wenigen noch verbleibenden Unsicherheiten schnell, im besten Fall vorab, geklärt werden können.
- Welche Bezahlmöglichkeiten bietet der Händler an?
- Sollte man die tatsächliche Verfügbarkeit kurz erfragen oder das Produkt reservieren?
- Kann der u.U. sperrige Artikel eventuell geliefert werden?
- Wo befindet sich das Geschäft?
- Hat es geöffnet?
- Wie kommt man dorthin?
Warum man es den Kartendiensten zeigen sollte
Die Kartendienste der verschiedenen Anbieter und die dort vom Einzelhändler hinterlegten Informationen sind wichtig. Neben der obligatorischen Angabe der Adresse und Telefonnummer, der Route und der Öffnungszeiten können die Einträge mit Fotos des Gebäudes, des Ladenlokals, weiterführenden Links und anderen Informationen optimiert werden. Gelegentlich haben bisherige Kunden bereits Rezensionen verfasst, die in diesem Moment eine wichtige Entscheidungsgrundlage für oder gegen den Einzelhändler darstellen.
Eine auf diesen Moment abgestimmte Marketingstrategie basiert auf einer Reihe von Möglichkeiten, die die Digitalisierung erst eröffnet. Proximity Marketing berücksichtigt - zumindest bei einer seiner technikaffinen Klientel - die Möglichkeit, proaktiv diesen Moment abzupassen. Ein funktionierendes, auf Örtlichkeiten basierendes Retargeting kann in diesem Moment die passenden Werbemittel oder Hinweise zu aktuellen Rabattaktionen ausspielen. Konsequent wäre, wenn in diesem Zusammenhang sogar situative Faktoren wie die Uhrzeit, das Wetter oder eine potentielle Konkurrenzsituation vor Ort berücksichtigt würden.
Fazit: Das kundenzentrierte Marketing sollte vom Einzelhandel als Chance wahrgenommen werden. Letztendlich gilt: Wenn sich der „Point of Decision“ und der „Point of Sale“ voneinander entkoppeln, muss der Fokus auf dem Kundenerlebnis liegen. Hier liegen die Stärken des Handels, auf die man sich gegebenenfalls in alter Kaufmannstradition nur zurückbesinnen muss. Die Digitalisierung liefert dazu eine breite Palette von Werkzeugen.