Tim Leberecht im Gespräch mit Redakteur Conrad Breyer

Tim Leberecht im Gespräch mit Redakteur Conrad Breyer

Da kommen die Agenturen ins Spiel?

Richtig. Was Werber nämlich sehr gut können, ist Geschichten zu erzählen. Diese Fähigkeit wird im Zuge der digitalen Transformation immer wichtiger. Jetzt haben wir es ja mit Technnologien zu tun, die die Märkte und Menschen radikal verändern: VR, AR, KI. Die Geschichten, die wir mit ihnen erzählen, werden unsere Gesellschaft prägen. Da können Werber eine wichtige Rolle spielen, weil sie Leitbilder entwerfen, Orientierung bieten.

Davon sind Agenturen weit entfernt.

Sie sind marginalisiert worden. Heute verkaufen Sie ja keine fertigen Produkte mehr, sondern alle Produkte wandeln sich in der Digitalisierung letztlich in Dienstleistungen. Es geht sehr viel um Design von Markenerfahrung, mit reiner Kommunikation ist es nicht mehr getan. Ich glaube, vieles wird sich von der Werbung daher in die Bereiche Produktisierung und Inkubation verlegen. Agenturen werden Unternehmen helfen, Experimente durchzuführen. Designagenturen können das schon.

Und Werbeagenturen können Storytelling.

Nur hat sich das verändert. Früher war die Geschichte nur der Katalysator, um das Produkt an den Markt zu bringen. Jetzt haben alle erkannt, dass Geschichten auch im Innenleben der Firmen eine Rolle spielen, bei Mitarbeiterkultur und Strategieentwicklung. "Your story is your strategy", sagt der US-Venture-Capital-Investor Ben Horowitz. Wir bewegen uns von transaktionalen Geschichten – "Warum soll ich kaufen?" – zu transzendenten Geschichten – "Warum soll ich an die Marke glauben?" Deswegen wird die Rolle von Geschichtenerzählern größer werden.

Die romantische Suche nach Bedeutung

Jetzt sind wir schon mittendrin. Wenn ich einhaken darf: Was ist daran eigentlich romantisch?

Geschichtenerzählen an sich ist eine romantische Qualität. Weil es ja immer darum geht,  etwas zu projizieren, eine andere Welt zu entwerfen. Und im Fall der Werber rührt das Geschichtenerzählen an die Grundsehnsucht, die sie dazu getrieben hat, ihren Beruf zu ergreifen. Das hat viel mit Sinnsuche zu tun.

Ihr Buch "Business-Romantiker" ist vor drei Jahren erschienen. Wie bringen Sie diese widersprüchlichen Begriffe zusammen?

Ich komme ja aus dem Marketing, wollte damals ein Buch schreiben über die Rolle von Marken als Sinnfabriken und habe mir überlegt, was die Prinzipien dafür sind. Was sind Momente, die für Menschen bedeutsam sind und warum? Und so habe ich festgestellt, dass diese Prinzipien exakt dieselben sind wie die, für die die Romantiker eingetreten sind. Als Schüler fand ich die Epoche eher nicht so toll (lacht). Ich fand es schwülstig und prätentiös.

Und jetzt kämpfen Sie sogar für eine romantische Revolution!

In der Tat! Wir verbringen über 70 Prozent unserer wachen Stunden am Arbeitsplatz. Aber viele Leute haben innerlich gekündigt. Weil Sie als Mensch dort nicht stattfinden dürfen. Das ist ein doppelter Wertverlust: Für die Unternehmen entstehen Milliarden Ausfallkosten. Und die Menschen schmeißen ihr Leben weg.

Das ist Ihre These von der Entfremdung durch Produktionsprozesse, Rationalisierung, Quantifizierung, Digitalisierung...

Diverse Studien sagen voraus, dass in den nächsten 20 Jahren bis zur Hälfte aller Arbeitsplätze automatisiert werden können. Es wird viele Berufe treffen, den Steuerberater, den Buchhalter, auch Journalisten. Da muss unsere Wirtschaft in der Lage sein, Menschen neue Perspektiven zu eröffnen.

"Werber können Geschichten erzählen und bieten Orientierung; das macht sie in der digitalen Zukunft unverzichtbar"

Zitat: Tim Leberecht

Und wo liegen die?

Der Philosoph Robert Solomon hat mal gesagt: Marktplätze sind nicht nur effektive Mechanismen für den Güterverkehr, sondern dienen als soziale Foren, die Gemeinschaft stiften. Das muss man sich immer vor Augen führen. Klar geht es um Bedürfnisbefriedigung und Wohlstand, aber wir brauchen Wirtschaft auch, um menschliche Beziehungen zu regeln, in denen wir Sinn erfahren, in denen wir unsere Identität bilden.

Sie plädieren für eine konsequente Re-Humanisierung der Arbeitswelt.

Noch wird das systematisch verhindert. Von den vielen risikoeliminierenden Prozessen in Unternehmen. Die Menschen haben Angst davor, aus der Rolle zu fallen, Exzentriker zu sein. Aber da ist es natürlich klar, dass viel Kreativität flöten geht.

Die deutsche Wirtschaft steht doch gut da.

Alles ist im Umbruch, keiner hat Antworten, und es herrscht eine große Offenheit gegenüber neuen Ideen. Allen ist klar, dass sich die Digitalisierung durch KI nochmals beschleunigen und radikalisieren wird – und dass gerade auch der deutschen Wirtschaft ein massiver Wandel bevorsteht. Die große Chance besteht darin, diese Entwicklung mit dem Mensch im Zentrum aktiv zu gestalten und in eine neue Form der digitalen sozialen Marktwirtschaft zu überführen.

Ohne Not?

Doch, weil die Dringlichkeit da ist, ganze Industrien spüren, die Autohersteller zum Beispiel, dass es nur mit Optimierung nicht mehr getan ist und sie Visionen brauchen, die Menschen inspirieren und motivieren. Das spielt dem Thema Menschlichkeit und Rehumanisierung der Arbeitswelt in die Karten.

Leberechts Buch Business-Romantiker kam 2015 zunächst in den USA auf den Markt

Leberechts Buch Business-Romantiker kam 2015 zunächst in den USA auf den Markt

Für Sie als Autor, Redner und Berater ist das ja nur gut. Haben Sie viele Aufträge?

Ja, ich sehe steigende Nachfrage. Zwei Sachen sind für Unternehmen wichtig: Was ist unsere Geschichte? Und: Wie bleiben wir in Zukunft relevant? Da können gerade Agenturen ihren Beitrag leisten.

Dann wiederhole ich meine Eingangsfrage: Wie machen wir Deutschlands Werber wieder froh?

Indem wir sie daran erinnern, dass sie Geschichten erzählen, die inspirieren und Menschen verändern. Authentische Geschichten, die sich vielleicht sogar widersprechen.

Verwirrt das nicht eher?

Im Gegenteil: Das erzeugt eine ganz andere Strahlkraft. Das ist das Menschliche daran. Keiner von uns hat eine perfekte Identität. Wenn wir wüssten, was immer passiert, wäre unser Leben wahnsinnig fad. Ich glaube, dass zum Beispiel eine Marke wie Tesla, die sich auch mal verzettelt, Fehler eingesteht, echt wirkt und somit attraktiv bleibt.

Marken mit Strahlkraft müssen unberechenbar sein

Tesla hat sicher Strahlkraft, ob sich das auszahlen wird, steht aber noch nicht fest.

Wir müssen Marken dazu ermutigen, unberechenbar zu bleiben. Letztlich werden sie dadurch charismatischer. Das Problem der ersten Welle der Digitalisierung war ja, dass wir vor allem darum bemüht waren, Berechenbarkeit herzustellen. Auf Kosten des Abenteuers, des Dramas, der Romantik. Der ultimative Erfolg einer Marke ist es, Werbung überflüssig zu machen. Wenn die natürliche Anziehung stark ist und zwar nicht aufgrund dessen, was beworben wird, sondern was die Marke macht.

Wenn Felix Baumgartner für Red Bull mit einem Fallschirm aus dem All springt?

Oder Marken für politische Positionen stehen, so wie das Howard Schultz, der CEO von Starbucks, vormacht. Das schafft Glaubwürdigkeit. Gerade auch bei Millennials und der Generation Z. Die interessiert nicht, was Marken sagen, sondern was Marken machen. Wir werden diese Art von Markenaktivismus immer häufiger sehen. Marken als Bewegungen. Marken, die brennen. Und Agenturen als Brandstifter.

Das Ende der Werbung, wie wir Sie kennen?

Wie in allen anderen Industrien wird es eine Zweiteilung geben. Die Maschinen, die Ihnen kalkulieren, wen sie wann erreichen. Das Google-Modell. Auf der anderen Seite die zutiefst menschlichen, hochkreativen, wilden, unberechenbaren Künstler.

Und sitzen die in Werbeagenturen?

Kreative Technologie ist die Chance der Agenturen. Wilde Kreativität, in Partnerschaft mit KI. Die Agenturen haben sich ein bisschen die Butter vom Brot nehmen lassen vom Dauerstress des ROI-Nachweises, dem Wunsch nach der Messbarkeit aller Ergebnisse. Ich kann das als Kunde nachvollziehen. Auf der anderen Seite muss man sich bewusst machen, dass das die eigentliche Stärke von Agenturen kompromittiert, die Kreativität, das verrückte Denken, das den Kunden herausfordert. Es ist ja auch kein Zufall, dass Firmen wie Intel mit Künstlern arbeiten, weil sie diese Art Input brauchen. Nur kommt es eben nicht mehr von Agenturen.

"Empathie ist wichtig, Kollaborations- und Teamfähigkeit, Vorstellungskraft, soziale und emotionale Intelligenz"

Zitat: Tim Leberecht

Was empfehlen Sie?

Werber müssen sich auf ihre Storyteller-Qualitäten besinnen und begreifen, dass sich Marken über Werte definieren und als Bewegungen organisieren. Und: Ich glaube, dass Werbeagenturen zu einer besonderen Mischung werden müssen aus Design- und Kommunikationsagentur, Strategieberatung und auch Produktentwicklung. Als solche sind sie dann vielleicht keine klassischen Werbeagenturen mehr. Aber ich würde mir wünschen, dass es Agenturen sind, die den Beweis antreten, dass digitale Technologien eben nicht nur zur Effizienzsteigerung benutzt werden können, sondern unserem Leben mehr Bedeutung verschaffen und es letztlich romantischer machen.

Heißt?

Sie müssen den Mut haben, das Zeitalter der künstlichen Intelligenz mitzugestalten. Das Allerwichtigste ist die Fähigkeit dazuzulernen, die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Welten zu wandeln. Mit künstlicher Intelligenz arbeiten zu können, einem Chatbot die eine Stunde, und sich die nächste Stunde dann wieder auf eine echte menschliche Beziehung einlassen. In einer virtuellen Realität zu arbeiten, sich aus ihr wieder lösen. Reibungslos zwischen alle diesen Welten wandeln zu können, selber eine Vielzahl von Identitäten haben, also wirklich ein Kulturwandler zu sein.

Wie sähe das im Alltag eines Werbers aus?

Werber brauchen auf der einen Seite kreative, auf der anderen Seite analytische Skills. Sie müssen wissen, wie  Daten zu beschaffen und zu lesen sind; auf der anderen Seite sollten sie mit Daten kreativ umgehen können. Data Artists statt Data Analysts. Dafür brauchen wir übrigens wieder die Geisteswissenschaften. Es gibt ja keine andere Disziplin, die uns zeigt, wie andere leben. Denken, fühlen. Das ist das, was Literatur, Film, Bücher leisten.

In der Wirtschaft kein so gefragtes Fach.

Ja, zu unrecht. Man sieht auch schon, wie sich das ändert. Ich habe einen Kunden in den USA, eine Non-Profit-Organisation, die Früherziehung anbietet für Kinder aus einkommensschwachen Familien. Und die machen regelmäßig Studien und überlegen sich, wie bereiten wir diese Kinder langfristig am besten auf den Jobmarkt der Zukunft vor? Die Schlüsse sind immer die gleichen: Empathie ist wichtig, Kollaborations- und Teamfähigkeit, Vorstellungskraft, soziale und emotionale Intelligenz.

Tim Leberecht empfängt in seiner Wohnung. Seine Frau und er sind erst vor Kurzem nach Deutschland gezogen.

Tim Leberecht empfängt in seiner Wohnung. Seine Frau und er sind erst vor Kurzem nach Deutschland gezogen.

Und was hat die Wirtschaft davon? Müssen Menschen, die Geld verdienen wollen, nicht einfach auch bestimmte Dinge wissen?

Sicher. Aber im Grunde geht es doch da auch immer mehr um Methodenkompetenz und Beziehungsfähigkeit. Das reine Expertenwissen liegt künftig in der Cloud. Das müssen Sie dann im Idealfall nur noch kuratieren.

Und die Angestellten können sich aufs Kreativsein verlegen.

Und die Möglichkeit, anders zu denken, Beziehungen zu gestalten. Das ist das Wichtigste. Das sind nämlich genau die Qualitäten, die Maschinen so nicht beherrschen.

Klingt zu schön, um wahr zu sein. Was müssen Unternehmen und Agenturen tun, um ihren Leuten den Freiraum dafür zu gewähren?

Alle werden zufriedener, wenn sie in den Dialog darüber, wofür ihre Firma steht, eingebunden sind. Jeder weiß dann intuitiv: Das muss ich tun, weil das im Einklang mit unseren Werten ist. Das Zweite ist natürlich der Arbeitsplatz. Den immer wieder neu zu dramatisieren, nicht nur Routinen zum alleinigen Gestaltungsmittel zu machen. Sollte das Meeting heute nicht mal draußen stattfinden, mit anderen Rollen und Ablauf? Und das Dritte ist: zu vertrauen. Loslassen können. Lass die Leute machen, inklusive Fehler. Nur so entsteht ein Unternehmen mit einer eigenen Kultur.

Misslingt die Revolution herrschen dystopische Verhältnisse

Sie schreiben in Ihrem Buch außerdem, man sollte immer wieder verschiedene Rollen ausprobieren dürfen. Dafür müsste man ja sämtliche Hierarchien abschaffen?

Cisco macht das zum Beispiel. Sie erlauben ihren Angestellten, verschiedene Rollen anzunehmen entsprechend ihrer Interessen und Skills. Zu sagen: Ich bin jetzt einfach mal vier Wochen Projektmanager und dann zwei Wochen Operations, dann vier Wochen Finance. Oder auch die Berliner Designfirma IXDS, die sich als "entrepreneurial platform" begreift und damit experimentiert, ihre Angestellten Rolle und Projekte selber wählen zu lassen.

Verlieren sie so nicht die Kontrolle über ihr Unternehmen?

Da ist viel Angst im Spiel. Viele fürchten um ihren Status, gerade das mittlere Management. Aber wir müssen uns tatsächlich fragen: Ist die Empfangsdame nicht besser vernetzt als der CEO? Und wer schafft den größten Wert im Unternehmen? Ist das der Creative Director oder vielleicht der Projektmanager, der in den Meetings immer brillante Ideen hat? Zu lösen sind solche Widerstände nur über Beziehungen – sie sind das Kapital von Unternehmen.

Hört sich immer noch utopisch an. Was, wenn Ihre romantische Revolution misslingt?

Dann wird es düster. Dann wird es eine Mischung werden aus "1984" und "Matrix". Einige wenige werden die digitalen Plattformen betreiben, die die Daten haben und somit die Macht. Und sie werden vielleicht gar kein Interesse mehr daran haben, diejenigen, die ohne Job sind noch als wertvolle Teilnehmer der Marktgesellschaft, als Mitglieder der Gesellschaft, zu begreifen. Aber ich bin optimistisch. Es wird große Umwälzungen geben, und wir müssen den neuen Technologien kritisch gegenüberstehen und überlegen, im Sinne welchen Menschen- und Gesellschaftsbildes wir sie verwenden. Mein Plädoyer ist: Nicht nur für Effizienz, nicht nur für Wachstum, sondern für Empathie, Solidarität und nicht zuletzt mehr Romantik.


Conrad Breyer, W&V
Autor: Conrad Breyer

Er kam über Umwege zur W&V. Als Allrounder sollte er nach seinem Volontoriat bei Media & Marketing einst beim Kontakter als Reporter einfach nur aushelfen, blieb dann aber und machte seinen Weg im Verlag. Conrad interessiert sich für alles, was Werber- und Marketer:innen unter den Nägeln brennt. Seine Schwerpunktthemen sind UX, Kreation, Agenturstrategie. Privat engagiert er sich für LGBTQI*-Rechte, insbesondere in der Ukraine.