Kolumne:
Die reine Masse macht's eben nicht mehr
Nico Lumma und Christoph Hüning vom Next Media Accelerator beschäftigen sich mit Themen, über die man im Laufe der Woche sprechen sollte. Diesmal: Neue individualisierte Angebote auf dem Medienmarkt
"Das Internet beerdigt das Geschäftsmodell der Massenmedien, und damit auch die Idee, es gäbe so etwas wie eine Masse. Wir lernen gerade, Menschen als Individuum zu sehen und im Kontext ihrer Communities zu betrachten." Dieser Satz des amerikanischen Journalismus-Vordenkers Jeff Jarvis sollte alle Medienschaffenden aufhorchen lassen. Und uns dazu bringen, die interessanten und teilweise gegenläufigen Bewegungen im Medienmarkt genauer zu betrachten. Dabei ist es vor allem spannend zu sehen, was sich gerade auf dem amerikanischen Markt entwickelt, da vieles davon üblicherweise mit ein paar Jahren Verzug auch auf dem deutschen Markt erscheint.
So wachsen aktuell bei vielen Verlagen die Umsätze bei den Digitalabos oder e-Paper-Angeboten, die immer noch nach dem klassischen "one size fits all" verlaufen und bei denen die Leser*innen nur selten Inhalte nach ihren Interessen ausgesteuert bekommen, sondern doch bitte das lesen sollen, was die Redaktion für lesenswert erachtet. Hier wird die alte Print-Logik weitergeführt, die aber in der Welt von Interessen-Communities immer weniger Sinn macht.
Parallel zu den herkömmlichen Anbietern gibt es immer mehr neue Nachrichtenangebote, die sehr fokussiert sind auf ein Thema oder eine Zielgruppe, die Inhalte anders aufbereiten und damit ihre Leser*innen besser erreichen wollen. Dazu gehören sicherlich Axios und Protocol, aber vor allem auch die Newsletter Morning Brew und Platformer. Interessant an Platformer ist vor allem, dass sich hier ein bekannter Journalist, der vorher bei The Verge einen populären Newsletter geschrieben hat, mit dieser Newsletteridee selbständig gemacht hat, um seine Leser*innen direkt anzusprechen und durch ein klassisches Abo-Modell Geld zu verdienen. Axios hat kürzlich nicht nur bekannt gegeben, das sie profitabel sind und 58 Millionen Dollar Umsatz in 2020 machen werden, sondern künftig neue lokale Newsletter für die Städte Denver, Des Moines, Minneapolis und Tampa anbieten werden.
In Deutschland ist der bekannteste Versuch, unterschiedliche Zielgruppen auf jeweils eigenen Kanälen erreichen zu wollen, sicherlich Gabor Steingarts Media Pioneer mit einer Mischung aus Newslettern, Podcasts und Events. Die aktuelle kontroverse Diskussion (hier und hier) zu diesem Angebot zeigt aber auch, dass zum Start eines diversifizierten Angebotes Geld und Reichweite hilfreich sind, um die notwendige Aufmerksamkeit zu schaffen. Am anderen Spektrum gibt es bereits viele kleinere Newsletter-Angebote, die deutlich fokussierter auf ihre Zielgruppe eingehen. Unser Portfolio-Unternehmen Followistic kann Verlagen dabei helfen, das Nutzer*innen-Engagement zu erhöhen, indem automatisch generierte Themen-Newsletter speziell für die einzelnen Leser*innen versendet werden.
Wenn die These von Jeff Jarvis stimmt, dann stellen sich vor allem zwei Fragen: Ist Deutschland als Medienmarkt für florierende Nischen groß genug und gibt es genügend Journalist*innen, die den Mut haben, neue Formate auszuprobieren und diese dann auch konsequent selber zu monetarisieren? Die über Jahrzehnte gelernte Trennung von Redaktion und Verlag / Vermarktung muss hier zwangsläufig überwunden werden, was ein Umdenken erfordert, dass durchaus herausfordernd sein kann. Und andersherum gilt es zu beantworten: Wann ist der Leidensdruck der Leser*innen so groß, dass kein Interesse mehr am herkömmlichen Modell besteht? Und trifft das auf einen entsprechenden Überdruss bei den Angestellten in den Verlagen, um gemeinsam neue Projekte jenseits des guten alten Massenformates zu starten?
Der Markt wird weiter in Bewegung bleiben und für die großen Medienhäuser wird es immer schwieriger werden, ihre gewachsenen Apparate mit den Anforderungen der Leser*innen überein zu bringen. Zum Abschluss ein Beispiel, das Mut macht: RUMS aus Münster hat es geschafft, über einen kostenfreien Newsletter eine Conversion von Interessent*innen in zahlende Abonnent*innen für lokalen Qualitätsjournalismus zu erreichen. Zwar ist RUMS bisher nicht gewinnorientiert aufgestellt, aber ein mutmachender erster Schritt auf dem Weg in eine neue Medienvielfalt.