Gastbeitrag von Eva Reitenbach:
Die neue Hässlichkeit: Warum die Werbung umdenken muss
Junge Menschen sehen die Welt ungefiltert. Ihnen geht es um radikale Offenheit und Verletzbarkeit, die Vertrauen schafft. Was das für die Werbung bedeutet, erklärt Eva Reitenbach, Geschäftsführerin von Oddity in Berlin.
Während wir es uns in der Abendröte mit Nagel und Löwe gemütlich machen, machen sich unsere Zuschauer auf in eine neue Welt. Sie heißen Gen Y, Z und bald auch Alpha, sie gehen anders mit Medien um und sie sind anderes in ihrem Stream gewohnt. Sie konsumieren schneller (< 5 Sek.) und entscheiden fixer, was einen zweiten Blick wert ist (< 1,7 Sek.). Das wissen wir schon längst.
Aber: Sie kommunizieren zusätzlich, noch unberührt von Werbung, anders miteinander als wir es tun. Statt zu schreiben schicken sie sich minutenlange Sprachnachrichten, Emojis, selbsterstellte Memes und lustige, schnellgeschossene Fotos. Und sie sehen ihre Lieblings-Influencer inzwischen nicht mehr nur in kleinen, gut ausgeleuchteten Hochglanzproduktionen, sondern auch picklig und ungeschminkt vor dem Frühstück. Hochkant und verwackelt. Hält ja eh nur 24 Stunden.
Das eine Gerät, das ihnen wichtiger als ihre morgendliche Chia Bowl ist, bietet nicht nur einen extrem einfachen Zugang zu Massen von Content, man kann damit auch ganz einfach selbst zum Content Creator werden. Gen Z wartet nicht darauf, Inhalte geliefert zu bekommen, sie verfasst einen Großteil einfach selbst, schreibt Bewertungen und wirft Fotos und Erfahrungen in die stetig wachsende Informationsflut.
Kommunikation verändert sich. Sie wird hässlicher.
Es geht nicht mehr um das, was als "Authentizität" oder "Slice of Life" bezeichnet wird und Nulllinie in jedem Instagram-Kanal ist. Sondern um wirklich echte Offenheit und Verletzbarkeit, die echtes Vertrauen erzeugt. Die jungen Generationen haben längst begriffen, dass Fehler und schwache Momente öffentlich sichtbar und schonungslos kommentiert werden. Ungefilterte Ehrlichkeit und Selbstironie rücken viel weiter nach oben in der Wichtigkeitsskala und makellose Perfektion steigt schneller ab als der VfB.
Völlig ungebremst: der Erfolg von Stories und Live-Streaming.
Während wir uns noch in vignetten-garnierter Authentizität wälzen, sind junge Konsumenten also schon einen Schritt weiter und betrachten ihre Welt ungefiltert und ungeschönt. Der ungebremste Erfolg von Stories, Live-Streaming und privater Überkommunikation sind die stärksten Treiber dieser Entwicklung. Neben der Nachricht der besten Freundin wirkt Werbung dann noch werblicher, noch unechter. Sie ist aus der Zeit gefallen. Und interessiert nicht mehr.
Es ist nicht nur die Technologie, es geht um Diversität.
Es ist nicht allein eine Frage der Technologie. Zusätzlich erlebt Europa gerade einen kleinen, aber längst überfälligen Ruck in Richtung Diversität. Es wird über Geschlechterdefinition und -rollen gesprochen, über Rasse, Alter, Behinderungen und Gesundheitszustände, die heute noch Menschen voneinander differenzieren oder ob es nicht eigentlich wichtiger ist, Gemeinsamkeiten zu finden.
Die Lücke zwischen dem, was Unternehmen in Deutschland zeigen und was wahr ist, ist immer noch sehr groß. Nehmen wir das Beispiel Kleidergröße: Zwei Prozent der in Mode- und Lifestyle-Magazinen abgebildeten Frauen sind Plus-Size-Models. Germany's Next Topmodel trumpfte mit zwei Curvy Models auf – zum ersten Mal nach zwölf Jahren. Aber gleichzeitig haben über 50 Prozent aller Frauen in Deutschland das, was man eine Übergröße nennt. Oder weiter: Ein Achtel der deutschen Bevölkerung hat eine Behinderung. 7,4 Prozent der Deutschen sind nicht heterosexuell, 23 Millionen sind über 60.
Echt und ehrlich zu sein, rückt in den Mittelpunkt der Erwartungen.
Wir nehmen weltweit Markenartikler wahr, die sich erfolgreich darauf einlassen. Dezent oder offensiv realistische Aspekte in ihre Kommunikation einfließen lassen. Marken wie Aerie zeigen uns, wie elegant und unprätentiös man Echtheit in Umfelder einbauen kann, die eigentlich nur eines wollen: verkaufen. Tommy Hilfiger stellt unkommentiert Menschen mit Behinderungen neben Menschen ohne. Mothercare zeigt frischgebackene Mütter so wie sie wirklich sind: mit Streifen und wunderschön. Gillette lässt den Shitstorm über seine Definition der neuen Maskulinität hinwegrollen und macht unbeeindruckt mit Transgender-Thematiken weiter. Asos, Maybelline, die Liste wird immer länger. Diversität und Realismus ist nicht mehr nur Netflix oder Dove vorbehalten.
Ist die Werbung, wie wir sie gelernt haben, also tot?
Ja und Nein. Denn auf der anderen Seite haben wir weiterhin wunderschön erzählte Inhalte, kuratierten Content, der zwar ganz offensichtlich als Werbung etikettiert ist, aber trotzdem als solche akzeptiert und geliebt wird. Menschen haben Geschichten schon immer geliebt und diese Zeit ist noch nicht vorbei. Ich behaupte sogar, dass Storytelling mit den technologischen Möglichkeiten, die wir haben, noch größer, noch bewegter, noch immersiver werden wird. Wir dürfen Zetsche verabschieden und das Heimkommen feiern. Dafür ist der goldene Handschmeichler dann auch verdient.
Da haben wir nun zwei Pole, zwischen denen alles andere, meiner Meinung nach, zukünftig an Bedeutung verlieren wird. Einen dieser Pole bedienen wir schon recht gut, wenn wir uns denn trauen. Aber wie ist es mit der neuen Hässlichkeit, den echten, erschreckend ehrlichen Inhalten?
Wo sind die wirklich ehrlichen Inhalte?
Hört auf, für die Lücke zu produzieren, die sowieso keinen interessiert. Akzeptiert, dass ihr durchschaut werdet und der Mittelweg nicht mehr funktionieren wird.
Setzt auf große, gut erzählte Inhalte. Investiert darin. Aber vergesst dabei nie, relevant zu bleiben. Jede Geschichte ohne Mehrwert dahinter bleibt nur eine Geschichte.
Oder traut euch so nah an die Menschen heran wie noch nie. Setzt lieber auf Insights, Quantität, Aktualität und Realismus, statt auf die Endlosdiskussion, wo denn nun genau die Marke stattfindet. Erwartet keine Zuwendung oder Geld von einer Zielgruppe, wenn ihr nicht bereit seid, ihr in ihrem Umfeld entgegenzukommen. Wie schön das geht, zeigt uns Ahoj-Brause gerade.
Starre Regeln sind in diesem Umfeld hinderlich
Die Frage nach der Marke bleibt natürlich trotzdem berechtigt. Hat sie noch einen Platz in diesem Umfeld? Die gute Nachricht ist: Ja, hat sie. Aber: Branding muss lernen, auf Prinzipien und eine klare Haltung zu bauen, statt auf starre Regeln, die weder wechselnden Kanälen, noch dem Wechselspiel von "Pretty ugly" zu "Beautifully crafted" gerecht werden.
Eine starke Marke findet ihren Weg im Umfeld einer sich stetig verändernden Welt – und sie wächst daran.