Kommentar:
Das Newsletter-Volksfest der Medienvermarktung
Ein Sonder-Newsletter mit Pauschalaussagen sollte in dieser Krise nicht die Grundlage für eine budgetbelastende Mediaentscheidung sein, findet Plan-Geschäftsführer Christian Kaeßmann.
Ein paar Mal im Jahr wird die neue MA veröffentlicht. Mal für Print, mal für Radio. Dann neue IVW-Zahlen. Und ach ja, dann sind da noch die Branchenevents: Dmexco, Screenforce Days, Radio Summit und OMR. Auch alle ganz wichtig. Und wir alle kennen es: In der Eigendarstellung der Medien gibt es bei diesen „Highlights“ nur Gewinner! Jedes Mal.
Wüssten wir nicht alle, was derzeit in Deutschland und der Welt passiert, könnte der Eindruck entstehen, dass diese meist luftleeren Events der Medienbranche nun geballt im März 2020 stattfinden. In den E-Mail-Postfächern der Mediaplaner sammeln sich die Sonder-Newsletter „in diesen ungewöhnlichen Zeiten“. Es sind so viele, dass ich schon fast keine Lust mehr habe, sie zu zählen, noch sie vollständig zu lesen. Mehr inhaltslose E-Mail-Post bekomme ich sonst nur an Weihnachten.
Alle fühlen sich super.
Die TV-Vermarkter feiern steigende Reichweiten, genau wie Web-/Radioanbieter, obwohl letztere diese ja gar nicht messen können. Podcasts sind plötzlich noch angesagter als ohnehin schon, Verlage schreiben Romane von steigenden Abverkaufszahlen im LEH. Und Online mit all seinen Facetten ist ja sowieso immer irgendwie geil und die Lösung aller Probleme.
Über die Gesundheit ihrer Mitarbeiter schreibt kaum einer. Klar, man muss Prioritäten setzen. Die Vertriebsmaschine läuft schließlich auf Hochtouren.
Fundament? Fehlanzeige.
Und was steckt dahinter? Erwartbar wenig. Natürlich steigen die TV-Reichweiten, aber eben nicht pauschal 24 Stunden am Tag, nicht bei jedem Sender, nicht in jeder Zielgruppe und nicht in jedem Genre. Gleiches gilt für die Sehdauer.
Die Onlinenutzung steigt, ja klar. Doch was tun die Menschen im Internet, wenn Amazon nicht mehr liefert? Welche Dienste nutzen Sie wirklich? Und ist das Medium nun beim Einkauf nach TKP oder CPC effizienter als vorher? Das Wirtschaftlichkeitsniveau bleibt gleich.
Die Krönung sind jedoch die Verlage. Die „steigenden Auflagen“ konnten in dieser Woche zwei wahllos angemorste Großverlage nicht mit Fakten unterlegen. Es gab noch gar keine Zahlen dazu.
Der neue Stolz: HO.
Auch ich jongliere zwischen Agentur und Arbeitgeberpflichten sowie Kindern und Schulpflichten. Dennoch sitze ich „in diesen außergewöhnlichen Zeiten“ viel im Büro und arbeite. Der Großteil meiner Kollegen hat sich fürs Home Office, Entschuldigung „HO“ entschieden. Ich bin bekennend kein Freund davon, habe es den Leuten aber selbst überlassen, ob sie reinkommen oder daheim arbeiten. Und natürlich funktioniert das. Hat es schließlich vor der Krise auch schon. Bei uns wie bei den meisten anderen.
Für die Autoren der Newsletter scheint Home Office jedoch eine zentrale Errungenschaft und das Kernelement des „außergewöhnlichen Handelns“ zu sein. Manch ein Autor kennt sogar den arbeitsrechtlichen Unterschied zwischen Home Office und Mobilarbeit.
„Wir sind für Euch da“ habe ich heute bestimmt in fünf Newslettern gelesen. „Alle unsere Mitarbeiter sind im HO und über die bekannten Kontaktwege erreichbar.“ Als ich das letzte Mal in meinem Leben so oft „HO“ gelesen habe, war ich ein Kind und habe mir die Nase in Katalogen und an Schaufenstern plattgedrückt. Die HO war für mich bislang immer von einem bekannten Modellbahnhersteller und fuhr auf Schienen im Kreis… (Ja, die hieß H0 und nicht HO. Dennoch liegt die Assoziation nahe.)
Ruhe bewahren!
Die Nervosität ist groß, Stornos sind schnell versendet. Nicht nur das falsche Thema zur falschen Zeit, sondern auch Unsicherheit und drohender Umsatzverlust bei den Werbungtreibenden führt zur Stornierung von Medialeistung im großen Stil.
Gleichzeitig scharren all jene Branchen mit den Füßen, die von der Situation profitieren und fallen möglicherweise auf die pauschalen Verkaufsargumentationen der Medienanbieter herein. Besonnenheit ist hier angebracht. Ein Vermarktungsnewsletter oder ein schneller Gedanke sollte nicht die Grundlage für eine budgetbelastende Mediaentscheidung sein.
Ob die Medien sich mit ihrem aktuellen Verhalten einen Gefallen tun, halte ich für zweifelhaft. Denn sonst wird am Ende aus dem Volksfest wieder ein Bazar.
Christian Kaeßmann, 44, ist geschäftsführender Gesellschafter bei Plan (www.wirsindderplan.de) in München, den er 2016 als neuen Akteur im Markt der Mediaagenturen gegründet hat. Mit einem Team von 9 Mitarbeitern betreut der Plan über 20 Kunden unterschiedlichster Branchen im Mediageschäft.
Zuvor gehörte er zu Führungsteams namhafter Mediaagenturen wie Universal McCann (heute UM), Mediaplus, MEC (heute Wavemaker) und Mediaplan. Christian Kaeßmann hat im Laufe seiner Karriere zahlreiche Auszeichnungen erhalten, agiert als Referent an verschiedenen Hochschulen und für Verbände und war 2016-2018 Juror beim Deutschen Mediapreis.