Content Marketing:
Agil agieren: Das ganze Leben ist ein MVP
Wer wartet bis sein Produkt fertig ist, den bestraft das Leben, findet Kolumnist Karsten Lohmeyer. Er plädiert für den “Minimum Viable Product”-Gedanken in Kommunikation und Marketing.
Erinnert sich noch jemand ein Duke Nukem Forever? Während einer schier unendlich langen Entwicklungszeit wurde jede Nachfrage nach dem Erscheinen des sexistisch-brutalen Ego-Shooters regelmäßig mit einem Satz beantwortet: “When it’s done.”
Ein Satz aus einer vergangenen Ära.
Denn längst schon hat der MVP-Gedanke übernommen. Nicht nur in der Spielebranche, sondern auch bei jeder Art von Software, digitalem Produkt und selbst in der Auto-Industrie (Tesla). Konkret: Ein Minimum Viable Product (MVP) ist ein Produkt, das gerade so die absoluten Mindestanforderungen erfüllt – und dann im Livebetrieb immer weiter verbessert wird.
Ohne MVP keine digitale Kommunikation
Warum ich das schreibe? Weil der MVP-Gedanke auch im digitalen Content Marketing so wichtig ist. Vermutlich wären ohne ihn viele Unternehmen (nicht nur) während der Corona-Krise komplett ohne digitale Kommunikations-Plattform dagestanden.
Ich habe es selbst bei einem unserer Kunden erlebt: Hätte man dort nicht auf das Ziel MVP hingearbeitet – und auch immer wieder den Mindestumfang an das Mögliche angepasst – wäre dieser Kunde zum Start der Corona-Krise ohne modernes Content Management System dagestanden. So aber konnte er selbst mit der MVP-Version seines neuen, leistungsfähigeren CMS und einer fantastischen Redaktion täglich zehntausende Menschen informieren.
Die Macht des MVP im Content Marketing
Ein positives Beispiel also für die Macht des MVP im Content Marketing. Allerdings steht zu befürchten, dass sich der Gedanke noch nicht überall in den Marketing und Kommunikationsabteilungen durchgesetzt hat. Stattdessen gilt meiner Erfahrung meist noch der alte Print-Gedanke, dass ein Produkt erst dann gelauncht wird, wenn es komplett fertig und - natürlich - alle Qualitäts- und Abnahme-Instanzen durchlaufen hat.
Das mag ja auch seine Richtigkeit haben. Als Kommunikator und Content Marketeer dreht sich mir der Magen um beim Gedanken, dass Marken die vielen kommunikativen Chancen der Corona-Krise versäumt haben, weil sie aufgrund des “Wir sind ja noch nicht fertig”-Gedankens keine moderne digitale Plattform hatten oder andere Herausforderungen hatten, die eine ordentliche (Krisen-)Kommunikation verhinderten. Die zum Beispiel – auch eine persönlich Erfahrung – statt einem modernen CMS nur Word-Dateien befüllen und selbst für die Korrektur eines Kommafehlers auf den nächsten Aktualisierungszyklus ihrer Webseite warten mussten.
Kontinuierliche Weiterentwicklung als Prinzip
Der frühe Start mit einem MVP und die anschließende Weiterentwicklung ist also ein ehernes digitales Prinzip – und damit eine der wichtigsten Grundlagen für digitales Content Marketing. Manche nennen das auch “agil sein”. Wer im Digitalen nicht schnell und agil handelt, wird in der dadurch verlorenen Zeit links und rechts vom Wettbewerb überholt.
Das gilt nicht nur für Technologie, sondern auch für den Bereich Content. Geschwindigkeit ist zum Beispiel beim Thema SEO Trumpf. Auch wenn das journalistische Prinzip “Be first. But first be right” gelten sollte, gilt auch: Wer der Erste im Google Index ist, hat einen enormen Vorteil.
Bei vielen newsgetriebenen Portalen ist daher immer ein CMS-Fenster für eine Eilmeldung geöffnet: Eine Meldung kommt rein, wird so schnell wie möglich bearbeitet, oft nur als Überschrift – und dann rausgejagt. Dieses MVP der ersten Eilmeldung kann dann in einer gewissen Ruhe und hoffentlich auch Sorgfalt durch detaillierte Informationen ergänzt werden.
Unfertigkeit widerstrebt Konzern-Strukturen
Was man als digitaler Content Marketeer wissen muss: Dieser Gedanke der Schnelligkeit, des Unfertigkeit, der schnellen Entscheidungen und des Nachbesserns widerstrebt traditionellen Konzern-Strukturen zutiefst. Hier dauert die Abnahme eines einzigen Artikels gerne deutlich länger, als der eigentliche Konzeptions- und Erstellungsprozess. Und natürlich herrscht durchaus zurecht die große Angst, in eine Reputationsfalle zu rennen, wie es neulich dem Volkswagen-Konzern mit seinem geschmacklos-rassistischem Instagram-Post passiert ist. Also lieber kein Risiko eingehen..
Prozesse, Personal, Kulturwandel
Was ist also die Lösung? Eine Mischung aus Struktur, Prozessen, vertrauensvoller Unternehmenskultur und professionellem Personal. In einer MVP-Welt müssen die Strukturen und Prozesse geschaffen werden, die es überhaupt erstmal ermöglichen, schnell und agil zu sein. Das bedeutet (digitale) Transformation des Denkens und von lang gelebten Konzern-Gewohnheiten. Ein Prozess, der zuvor vielleicht Tage oder Wochen gedauert hat, muss jetzt fast schon in Minuten erledigt sein. Ein digitaler Newsroom könnte hier ein Ansatz sein.
Fehler akzeptieren
Zweitens sollte man sich in einer MVP-Kultur immer klar sein, dass zumindest in der ersten und oft auch zweiten Version, sehr häufig Fehler enthalten sein werden. Sie müssen ja nicht gleich so dramatisch sein, wie jüngst bei Volkswagen. Absolut entscheidend ist es also, dass mit Fehlern offen und lernend umgegangen wird und man aus jedem einzelnen die richtigen Schlüsse zieht, um ähnliche Fehler künftig zu vermeiden. Vertrauen den eigenen Mitarbeitern und Agenturen gegenüber, eine gelebte Fehlerkultur sind also entscheidend.
Vertrauen kann aber in meinen Augen nur entsteht, wenn sich der Gegenüber dieses Vertrauens auch würdig erweist. Reputationsmanagement, das Erkennen möglicher Reputationsrisiken ist eine wahnsinnig schwere Aufgabe. Alle Fakten immer korrekt wiederzugeben, ebenfalls. Das heißt auch, dass ich hier wirklich erfahrene und professionelle Experten auf beiden Seiten brauche. Diese Verantwortung einem Junior aufzubürden, ist meines Erachtens verantwortungslos.
So faszinierend und wichtig der Gedanke des MVP also für das Content Marketing ist, kann er also auch sehr erschreckend für traditionelle Strukturen sein. Doch wer sich der neuen digitalen Denk- und Arbeitsweise nicht anpasst, dem geht es dann wohl wie “Duke Nukem forever”. Als es nach 14-jähriger Entwicklungszeit endlich “done“ war, krähte kaum ein Hahn danach – denn nicht nur, dass es auf veralteter Technologie basierte, hatte sich die Welt inzwischen weitergedreht und bot keinen Platz für so ein sexistisches Produkt.