Oklahoma City 1995, Littleton 1999, Erfurt 2002, Kauhajoki 2008, Winnenden 2009, Oslo 2011: Jede dieser Mordtaten, hinter denen immer ein einzelner Täter stand, ist in allen Einzelheiten beschrieben, analysiert, fotografiert, gefilmt und infografisch dargestellt worden. Jeder nur greifbare Zeuge, jedes nur sprechfähige überlebende Opfer, alle Angehörigen, Freunde und Bekannten sind befragt, durchleuchtet und in ihren Gefühlen in den öffentlichen Raum gestellt worden. Wir haben Schreie, wir haben Schüsse gehört, haben auf wackligen Bildern undeutliche Gestalten durchs Bild hasten gesehen, wir haben - aus nächster Nähe aufgenommen - Tränen, Verzweiflungsrufe, Hassausbrüche und immer wieder bleierne Ratlosigkeit beobachten können. Wir haben an Krankenbetten gestanden, haben das Anwachsen von Kerzen- und Blumenmeeren beobachtet, haben in Trauergottesdienste hineingelauscht und versucht, in den Mienen der Trauernden zu lesen. Und wir wurden mit den Lebensläufen der jeweiligen Täter vertraut gemacht, Detail um Detail, vom Krabbelgitter bis zur Hochschule, von Mama und Papa bis zu den glühenden Nachtsitzungen am Computer und den geplatzten Dates mit den Mädchen. Alles ist immer wieder neu - man erfährt aber, außer wechselnden Einzelheiten, nie etwas Neues.

Das schwüle Vergnügen des Tragik-Voyeurismus

Ein Grund für die mediale Belagerung aller Katastrophen ist die Lust an der Sensation. Kritische Kritiker sehen nur hier das große Problem und die große Schuld. Es sei die Sensationsgier der Medien - insbesondere der Yellow Press, der Boulevardzeitungen und der auf Horror abonnierten TV-Magazine -, die den Menschen das schwüle Vergnügen des Tragik-Voyeurismus aufzwinge. Das ist erheblich zu kurz gedacht. Denn erstens ist der Kunde, der Endabnehmer, der eigentliche Auftraggeber. Indem er - wozu niemand ihn zwingt - zur Zeitung oder zur Fernbedienung, zum Smartphone greift, willigt er in die wilde verwegene Jagd der vereinigten Reporterheere ein. Es wäre weltfremd zu glauben, wenigstens der aufgeklärte Bürger ziviler Gesellschaften sei frei von der Lust aufs Monströse, auf die blutige Sensation, auf die überdimensionierte Untat. Was aber diejenigen, die darüber berichten, nicht von der Pflicht enthebt, sich verantwortlich zu verhalten.

Die Yellow Press hat ihr Gutes

Die Yellow Press hat ihr Gutes. Sie mag nicht fein sein, ist aber - wie man so sagt - nah am Leben. Sie ist ein Kind der Demokratisierung und jener Ermächtigung der Massen oder der Plebejer oder einfachen Leute, die diesen gestattet hat, mit ihren Interessen und Bedürfnissen öffentlich anerkannt und mit medialer Nahrung versorgt zu werden. Sie erkennt praktisch an, dass es nicht nur die Hochkultur gibt, dass Krethi genauso das Recht hat, alles über Kate Middletons Kleidungsgewohnheiten zu erfahren, wie Plethi, in allen Details über Paul Kirchhofs Steuermodell informiert zu sein. Der Boulevard hat etwas zutiefst Egalitäres. Dass sich sein Interesse wie eine Klette an Katastrophen heftete, hatte sein Gutes. Der gemeine Mann musste sich diesen Medien gegenüber nicht mehr als zu belehrendes, zu verbesserndes, zu pädagogisierendes Objekt fühlen. Muckraker , Mistkratzer nannte Theodore Roosevelt Anfang des 20. Jahrhunderts anerkennend jene amerikanischen Journalisten, die mit meist nicht lupenreinen Methoden dem Filz, der Korruption, den dunklen Seiten der Mächtigen nachspürten und nachschnüffelten. Das Interesse am "Niederen" ist legitim.

Auf diese Weise ist nichts in Erfahrung zu bringen

Dies alles gesagt, ist es an der Zeit, von den Schattenseiten des modernen Muckraking zu sprechen, das nicht zuletzt im Online-Journalismus Triumphe feiert. Jede große Mordtat setzt augenblicklich die Jagd aufs Bild, auf das Zeugnis in Gang. Weil die Tat monströs ist, erobert sie mit der Macht des kreatürlich Selbstverständlichen den ersten Platz und den größten Raum. Viele jener, die Tatorte ablichten, sich an Angehörige heften, die Täterfamilien durchleuchten und wahllos Passanten befragen, sehen sich vermutlich als Aufklärer, die Licht ins Dunkel einer rätselhaften Tat bringen wollen. Glaubten sie das, wäre es in hohem Maße naiv. Alle Zeugen, alle Angehörigen der Opfer erzählen immer das Gleiche, alle Angehörigen der Täter sind auf stets gleiche Weise bestürzt und ratlos - und auch das Blut in Klassenzimmern, das wir sehen, erklärt uns nichts. Diese Jagd ist nicht nur deswegen elend, weil sie sich vom Elend der Menschen nährt, die plötzlich nur noch stammeln können. Es ist vor allem deswegen töricht und überflüssig, weil auf diese Weise NICHTS in Erfahrung zu bringen ist. In dem Maße, in dem Medien fast augenblicklich Zeugen von Katastrophen und Untaten werden konnten, sind sie zugleich einem zutiefst magischen, also vormodernen Denken verfallen. Sie tun so, als müsse man nur immer wieder stier auf die Oberfläche solcher Ereignisse starren - und es werde sich ihr Geheimnis enthüllen. Es herrscht der Wahn des Unmittelbaren. Ist es der Freiheit und der Einsicht fähiger Menschen würdig, sich immer wieder in diese Schleife zu begeben?

"Ich weiß wohl, dass ich mit Steinen im Glashaus werfe"

Ganz abgesehen davon, dass die medialen Auftriebe - die übrigens dem Monströsen ungewollt eine unpassende Normalität verleihen - in vielen Fällen eine unerträgliche Belästigung der Opfer und ihrer Angehörigen darstellen. Ich weiß wohl, dass ich mit Steinen im Glashaus werfe - nicht nur, weil die "Bild"-Zeitung im gleichen Verlag erscheint wie die "Welt", für die ich stehe, sondern einfach auch deswegen, weil ich Journalist bin. Dennoch: Jemand, der gerade einen Angehörigen verloren hat, hat das Recht, in seinem Entsetzen und seiner Trauer geachtet, also nicht behelligt zu werden. Er hat das Recht, sich nicht durch mediale Belagerung zu Äußerungen nötigen zu lassen, denen Satz für Satz anzumerken ist, dass sie Zitate sind, die von Tat zu Tat, von Betroffenem zu Betroffenem via Medien weitergereicht werden und denen daher jede Individualität fehlen muss. Er hat das Recht, alleine, nur mit den Seinen zu sein. Gewährt man ihnen dieses Selbstverständliche, geht der Menschheit nicht der Schimmer einer Einsicht verloren.

Die Kehrseite dieses Trauer nivellierenden Belagerns von Opferangehörigen ist die Verherrlichung des Täters. Bis in die letzten Windungen steigt der mediale Apparat diesen Menschen nach, erzählt ein ums andere Mal den Roman ihres Lebens und verleiht ihnen damit jene Besonderheit und Prominenz, die ihnen nicht zusteht. Der Täter weiß in der Regel, dass seine Tat keinen "Sinn" und nur Tote zur Folge hat. Erst die mediale Verstärkung, die sich sofort an sein Verbrechen heftet, und die Tatsache, dass sein Bild die Titelseiten ziert, machen aus dem Mörder einen Helden, eine rätselhafte, zu entschlüsselnde Person. Es sind auch die Medien, die zur Heroisierung des Verbrechens beitragen. Sie sind der wirkungsvollste Verbündete der Täter. Sind sie es doch, die ihn sofort aller Welt bekannt und so unsterblich machen.

Dem Deutungswettlauf verfallen

Ich spreche hier keineswegs nur von der Boulevardpresse. Alle Feuilletons (das dieser Zeitungsgruppe eingeschlossen) sind nach der Tat von Oslo augenblicklich in einen angestrengten Deutungswettlauf verfallen. Ob gewollt oder nicht haben sie das Manifest des Täters zu einem Grundlagentext erklärt, der durch die Interpretationsmaschinen aller nur denkbaren Disziplinen - von Psychologie über Linguistik und Literaturwissenschaft bis zu Soziologie und Theologie - gejagt werden muss. Die Ergebnisse sind so nichtssagend wie einander widersprechend. Einmal gilt als sicher, dass der Täter ein vormoderner Wüterich ist, ein anderes Mal ist er ein Abgesandter der Moderne; einmal steht ein Feuilletonist erzitternd vor dem "Ernst" von Tat und Täter, ein anderes Mal ist er gewiss ein Rechtsradikaler in SS-Tradition und "der erste Open-Source-Naziterrorist 2.0". Alle Geistesgrößen aus Vergangenheit und Gegenwart, alle semantischen Methoden müssen herhalten, um ihn zu entschlüsseln - und ihn so auf eine unerträgliche Weise zu adeln, in den Stand der Bedeutung zu erheben. Mission accomplished : Voller Stolz könnte sich der Täter die Wände seiner Zelle mit den Aufschlagseiten unserer Feuilletons tapezieren.

Kurt Kister hat in der "Süddeutschen Zeitung" - die sich der Exegese des Textes des Mörders besonders intensiv widmete -, dieses Problem durchaus gesehen. Er weiß, dass der Täter die Aufmerksamkeit nicht verdient. Doch auf wurstige Weise resigniert meint Kister, eine damnatio memoriae , eine Löschung aus dem Gedächtnis der Menschheit, sei nicht möglich - heute schon gar nicht. Denn: "Die Freiheit des Internets ist so groß, dass moralische Überlegungen dagegen als sehr klein erscheinen." In Zeiten, in denen jeder sein eigener Redakteur und Publizist sein kann, sei es nun einmal unvermeidlich, "dass aus dem Hintergrundrauschen oft die Themenmusik" wird, will sagen: dass der Unfug oft das Wesentliche erdrückt. Wahrlich, diese Gefahr gibt es. Es wäre aber eine schmähliche Kapitulation nicht nur des Journalismus, sondern der Öffentlichkeit überhaupt, nähme man das einfach hin. Menschen und Gesellschaften haben die Kraft, etwas nicht zu tun, was sie eigentlich tun könnten. Wer das aufgibt, sagt im Grunde, verbindliche Übereinkünfte und zügelnde Regeln seien im Internet-Zeitalter nicht mehr möglich. Das wäre das Ende von Politik und Gesellschaft, wie wir sie - in der Tradition abendländisch-aufgeklärten Denkens - bisher kannten und für gut erachteten.

Verbindliche Übereinkunft

Warum eigentlich sollen diejenigen, die am Rad der Informationsbeschleunigung drehen, also Journalisten, Verlage und ihre Verbände, nicht in der Lage sein, eine verbindliche Übereinkunft darüber zu erzielen, welche Regeln gelten sollen? Das hieße, über Massenmörder anders zu berichten: Der Täter soll nicht mehr im Mittelpunkt stehen, die Opfer wie ihre Angehörigen haben ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden. Es wäre dann nicht mehr so einfach, die Gedankenlosigkeit oder Bedenkenlosigkeit der jeweils anderen als Begründung dafür anzuführen, dass man selbst die Maschine der Katastrophenverklärung bedient."


Autor: Christiane Treckmann

Christiane Treckmann ist Mitglied der W&V Redaktion. Ihre Interessen: das Spannungsfeld von Menschen, Marken und Medien - analog und insbesondere digital. Daher liegen ihr besonders Themen rund um Markenstrategien, Mediaplanung, Nachhaltigkeit, KI - und die Menschen dahinter am Herzen. Christiane ist zudem regelmäßige Moderatorin der W&V Webinare.