Arbeitszeiten in Agenturen:
"Warum Work-Life-Balance ein Thema für unsere Branche sein muss"
Ist Work-Life-Balance nur "freizeitorientierte Schonhaltung"? Nein, findet Nils Seger von Rckt. Er erklärt, warum gerade die Kreativbranche nichts nötiger hat als das.
Nachtschichten gehören dazu. Sie könnten manchmal sogar erfüllend sein, sagte kürzlich Jean-Remy von Matt gegenüber "Zeit Campus". Wer "freizeitorientierte Schonhaltung" wolle, solle zu anderen Agenturen gehen als Jung Matt. Für Nils Seger, Gründer der Agentur Rckt, der Anlass für eine Gegenrede. Es sei Zeit für ein neues Narrativ der Kreativbranche - "und zwar jenseits der Schwarz-Weiß-Malerei über Nachtschichten auf der einen und Bällebäder auf der anderen Seite."
Bei der Diskussion um die Work-Life-Balance geht es im Grunde immer darum, sich einer speziellen Zielgruppe anzudienen. Das Narrativ der überarbeiteten Werber hat Jahrzehntelang gut funktioniert. Potenziellen Kunden wurden durch Aussagen über Nachtschichten und Extrameilen vermittelt, dass für ihr Budget alles gegeben wird. Der gleiche Erzählstrang hat für die Branche der Investmentbanker und Unternehmensberater ebenfalls erfolgreich funktioniert und ist im Kern sogar Teil des Geschäftsmodells. Die hart arbeitende Belegschaft ist das erste und beste Verkaufsargument für diejenigen, die mit Argusaugen ihre Budgets verwalten. Jenseits von Kickertischen und Tischtennisplatten lebt auch der Großteil der Digital-Szene von diesen Botschaften. Gegenüber Investoren müssen Gründerinnen und Gründer das Image der harten arbeitenden Mannschaft pflegen, um Investoren den Griff in den Geldbeutel zu erleichtern.
Eines haben die Berufsfelder jedoch gemeinsam - sie alle bieten ein großes Versprechen, ja sogar eine große Vision für all diejenigen, die sich für eine gewisse Zeit aufopfern. Investmentbanker und Unternehmensberater locken mit hohen Gehältern und tollen Netzwerken für künftige Karrieren, die Startup-Szene lockt mit der Goldgräberstimmung, bei einem potenziellen Milliardenunternehmen von Anfang an dabei zu sein.
Der Kampf um die Besten der Besten
Nun treten auch noch Tech-Giganten aus dem Silicon Valley in den Wettbewerb um die besten Talente und werfen völlig neue Aspekte in die Waagschale. Sie werben nicht nur mit tollen Gehältern, sondern auch mit verlockenden Angeboten rund um die Freizeitgestaltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Damit tragen sie auch den Erwartungen der Generation Y Rechnung. Laut einer Erhebung des Karriereportals Stepstone aus dem Jahr 2017 halten 81 Prozent aller Berufseinsteiger die Work-Life-Balance für extrem wichtig.
Hier werden gleich ganz verschiedene Visionen vermittelt. Auf der einen Seite das Gefühl, bei den wichtigsten und wertvollsten Unternehmen unserer Zeit dabei zu sein und auf der anderen Seite, Freiraum und Entfaltungsmöglichkeiten für sich selbst zu haben. Fürs Protokoll: Der Wettbewerb wird nicht nur im Gehalt gewonnen, die Work-Life-Balance wird heute erst Recht zum wichtigen Faktor für Talente – auch und gerade für die Besten der Besten.
Das Digitalunternehmen Adjust hat für seine Mitarbeiter keine Obergrenze an Urlaubstagen festgelegt. Sie schaffen diese Voraussetzungen, um die besten digitalen Talente und Entwickler nicht nur für das Unternehmen zu gewinnen, sondern auch um sie langfristig zu binden. Die Work-Life-Balance wurde hier in eine konkrete HR-Maßnahme übersetzt. Am Ende steht eine nachhaltige Mitarbeiterstruktur, geringe Fluktuation und ein Unternehmen mit Weltmarktführer-Status. Hier zeigt sich, dass die Work-Life-Balance keine "freizeitorientierte Schonhaltung" in der dritten Liga bedeutet, sondern ein Must-Have für die Unternehmen darstellt, die im digitalen Zeitalter in der ersten Liga spielen wollen. Wollen wir als Agenturen dazugehören, müssen wir auch im Bereich der Work-Life-Balance entsprechende Angebote machen.
Wir brauchen ein neues Narrativ für kreative Unternehmer
Das Paradoxe ist, dass wir es als Kommunikationsspezialisten bisher weniger schaffen, eine große Vision für unsere Talente zu formulieren. Agenturen bieten hier natürlich die Aussicht auf erfolgreiche und weithin sichtbare Projektergebnisse und locken Kreative damit, für Ruhm und Auszeichnungen in die Schlacht zu ziehen. Aber wir glauben doch nicht im Ernst, dass wir im Wettstreit mit Google, Apple & Co die besten Talente mit der Aussicht auf eine Preisverleihung locken können?
Die Frage, die wir uns als Agenturbranche stellen müssen ist also: Sind wir so smart und gut organisiert, wie die besten Digitalunternehmen der Welt? Nutzen wir die besten digitalen Tools für unsere Arbeitsprozesse? Vertrauen wir unseren Mitarbeitern in vollem Umfang und leben das konsequent in unserer Unternehmenskultur? Schaffen wir ein Umfeld, in dem wir Mut und Unternehmertum fördern und belohnen? Das geht nur mit Freiraum und mit der Möglichkeit, sich als Person voll zu entfalten. Hier kommt man an der Debatte um Work-Life-Balance nicht vorbei.
Die Generationen Y und Z sind wahrscheinlich diejenigen, die die höchsten Ansprüche an sich und ihre Arbeit haben. Als Arbeitgeber müssen wir ihnen ein Umfeld bieten, in denen sie dieses Potential abrufen können. Dazu zählt auch, sie als ganze Person inklusive Privatleben ernst zu nehmen und Rücksicht darauf zu nehmen. Der Job passt sich zukünftig dem Leben an, nicht umgekehrt. Das ist die große Errungenschaft digitaler Veränderungen der Arbeitswelt und der entscheidende Faktor im War for Talents.
Wir müssen jungen Talenten ermöglichen, innerhalb von Agenturen zu kreativen Unternehmern werden zu können. Eigenverantwortliches Arbeiten, zeitlich und vor allem örtlich flexibel mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten. Kollaborationstools, Home-Office-Regelungen und moderne Unternehmensstrukturen außerhalb von Silos und Hierarchien sind dafür notwendige Assets. Am Ende stehen für Kunden dabei weiterhin einzigartige Projekte, exzellente Ergebnisse und smarte Prozesse, die das Budget schonen. Die Tretmühle hat ausgedient - jetzt geht es für Agenturen darum, sich als smartes und effizientes Unternehmen zu organisieren.