"Stern"-Investigativ-Chef Schröm: "Der Whistleblower ist noch in der Minderheit"
Das Investigativteam des "Stern" startet ein eigenes Online-Portal inklusive Blog. W&V Online sprach mit Ressortleiter Oliver Schröm über Whistleblower, tote Briefkästen und darüber, wie sich die Recherche in Zeiten von Wikileaks und Social Media verändert hat.
Im Jahr 2010 gründete die „Stern“-Redaktion das Team Investigative Recherche. Jetzt erhält das Ressort von Oliver Schröm eine eigene Plattform im Online-Auftritt des Blatts: Unter www.stern.de/investigativ findet der User ein Archiv mit den großen investigativen Beiträgen aus dem G+J-Flaggschiff sowie exklusive Geschichten und Infografiken.
Außerdem bloggen die Redakteure - im Rahmen der Möglichkeiten - über die Themen, mit denen sie sich aktuell beschäftigen, und geben Informationen über sich selbst preis. W&V online sprach mit Oliver Schröm über die Plattform, die noch in dieser Woche online geht.
W&V online: Das Investigativteam des Stern gibt es seit 2010. Welche Erfahrungen haben Sie seither gemacht? Ist die Recherche schwieriger geworden?
Oliver Schröm: Die Recherche ist nicht schwieriger geworden, aber die Anzahl an Informationen hat in Zeiten von Internet, Wikileaks und Social Media enorm zugenommen. Um sie zu prüfen und aus der Menge die entscheidenden Informationen möglichst schnell herauszufiltern, braucht es zunehmend spezialisierte Experten. Unsere Unit beim "Stern" versammelt z.B. Online-Rechercheure, eine Datenjournalistin und Datenbankexperten, die themenübergreifend mit den Ressorts des "Stern" zusammenarbeiten. So haben wir beispielsweise den Fall des UEFA-Skandals und der Wettmafia mit den Kollegen des Sport-Ressorts in Teamarbeit zutage gefördert. Die Synergien entstehen dabei, wenn die Fachkenntnis um das Thema mit Recherche-Expertise auf der anderen Seite zusammenfindet.
Wie sehr sind die klassischen „Whistleblower“ bislang involviert – wie viele der Geschichten kommen aus solchen Quellen?
Der klassische Whistleblower ist noch in der Minderheit. Die Mehrheit der Informationen beziehen Redaktionen in Deutschland heute meist über ein jahrelang aufgebautes Netzwerk von vertrauenswürdigen Informanten in verschiedenen Themengebieten. Menschen mit Hinweisen fürchten oft noch, selbst öffentlich zu werden. Wir wollen diese Hürde abbauen, denn auch der "Stern" weiß mit dem Briefkasten nicht, wer eine Information hochgeladen hat. Er verifiziert nur die Information. Ein überregionaler und international angelegter Briefkasten wie der des "Stern" ist in Deutschland noch Pionierarbeit. Das bedeutet natürlich mehr Informationen und die Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen, aber es erweitert auch unseren Radar für verborgene Machenschaften.
Gibt es Themen, bei denen Sie von vornherein sagen: Das ist nicht für uns geeignet?
Der "Stern" deckt ein breites Themenspektrum ab und alles, was gesellschaftliche Relevanz hat, ist interessant. Entscheidend ist, dass sich Vorwürfe und Hinweise belegen lassen und nicht einer rein persönlich motivierten Kampagne folgen.
Ihr Investigativteam dürfte ja bereits jetzt über eine Vielzahl von wichtigen Informanten verfügen. Welche „neuen Whistleblower“ sollen über den Blog nun gewonnen werden? Ist er in erster Linie dazu gedacht, die Bekanntheit des Angebots und das Vertrauen in die Betreiber zu steigern?
Uns geht es um Menschen, die sich bisher nicht an die Medien gewendet hätten. Unser Ziel ist es, eine vertrauenswürdige Adresse für den klassischen Whistleblower zu schaffen, also Privatpersonen die Angst vor Nachteilen haben, wenn sie als Informanten bekannt werden. Ziel des Online-Auftritts "Stern Investigativ" ist auch, dass die Leute wissen, an wen sie sich wenden, dass sie das Team vor Augen haben, die verschiedenen Experten und auch Referenzgeschichten einsehen können. Der Informant bleibt anonym, unser Team und unsere Arbeit aber werden sichtbar.
Wie sehr hat sich die investigative Recherche in den letzten Jahren grundlegend verändert – gerade angesichts der neuen Kanäle?
Die Recherche hat sich absolut wesentlich verändert durch die neuen Möglichkeiten. Die digitale Vernetzung und das leichte Herstellen von Querverbindungen, aber auch die gestiegene Zahl an leicht verfügbaren Informationen waren ein Quantensprung. Um die neu entstandene Fülle an Informationen ausschöpfen zu können, haben wir ein mittlerweile siebenköpfiges Team gebildet. Aber auch die verfügbaren Tools heute sind andere. Der stern beispielsweise nutzt ein internes Wikipedia mit einem differenzierten Zugangssystem. Es erlaubt den für eine Recherche freigeschalteten Mitarbeitern, zu jeder Zeit den letzten Stand der Arbeit der anderen einsehen zu können.
Es gibt neben den einschlägigen internationalen Plattformen in Deutschland ja auch bereits den ein oder anderen Whistleblower-Blog, etwa von der WAZ oder taz („Open taz“). Wie will sich der "Stern" in diesem Umfeld positionieren?
"Stern Investigativ" richtet sich an ein überregionales und mit seiner englischen Übersetzung auch an ein internationales Publikum. Damit gehen zum Teil auch andere Themen einher als im regionalen Bereich. Hilfreich dabei sind sicher auch die Reichweite und Wahrnehmung des "Stern" und die Ressourcen in der Redaktion.
Es ist geplant, in Deutschland eine Art „Whistleblower-Schutzgesetz“ auf den Weg zu bringen. Ist der neue "Stern"-Blog auch im Hinblick auf diese mögliche Erleichterung der Informationsweitergabe ins Leben gerufen worden?
Nein, aber das ist eine aktuelle Entwicklung, die wir sehr begrüßen. Die Idee für Internetauftritt und Blog ist allerdings entstanden, als es diesen Gesetzesentwurf sicherlich noch nicht gab.