
Journalismus:
"Spiegel"-Titelgeschichte über Prostitution in der Kritik
Dass der "Spiegel" mit einer Titelgeschichte eine Diskussion auslöst, kommt gelegentlich vor. Diesmal aber geht es nicht ums Thema, sondern um das journalistische Vorgehen der Redaktion.
"Früher konnten Menschen, über die wir schreiben, Leserbriefe schicken oder mit Protestschildern vor das Verlagsgebäude ziehen, wenn sie nicht einverstanden waren. Heute müssen wir uns daran gewöhnen, dass die Betroffenen ihre eigene Sicht der Dinge in Blogs oder sozialen Medien darstellen." Das schreibt "Spiegel"-Autor Sven Becker in einem Blogbeitrag über die Diskussion, die sein Artikel über die Escort-Dame Carmen ausgelöst hat.
Nach Erscheinen des Magazins am 27. Mai 2013 mit dem Artikel über Carmen veröffentlichte diese einen Kommentar, in dem sie Becker und dem "Spiegel" vorwirft, sich nicht an Absprachen gehalten zu und unausgewogen berichtet zu haben. Carmen engagiert sich in der Piratenpartei für die Rechte von Sexarbeitern und baut mit Kolleginnen und Kollegen eine Lobbygruppe auf. Wie aus ihrem Kommentar hervorgeht, erhoffte sie sich einen Artikel über die politischen Rahmenbedingungen von Prostitution. Sie wolle keine Geschichte über sich und ihr Privatleben, zitiert sie aus einer E-Mail, die sie Becker vor dem ersten Treffen geschickt habe.
In dem "Spiegel"-Text aber geht es auch um ihr Leben jenseits der Prostitution und um ein Treffen, das zwischen ihr und dem Journalisten in einem Berliner Café stattfand. "Alle biographischen Details stammen von ihrer Website, ich habe sehr genau darauf geachtet, dass ihre Privatsphäre gewahrt bleibt. Ich hatte Carmen den groben Verlauf des Textes vor Erscheinen schriftlich geschildert. Ihr muss also klar gewesen sein, dass es ein Text über sie wird", schreibt Becker im "Spiegel"-Blog. "Bei der Wahrheit bleiben", mahnt er an und äußert sich auch zum Vorgehen bei der Zitate-Abstimmung. Zunächst wollte er Carmen offenbar mit Berliner Dialektfärbung zitieren, worüber sie sich in ihrem Kommentar empört. Was sie aber nicht schreibt, ist, dass ihre Worte im Magazin auf Hochdeutsch wiedergegeben sind. "Als Leser muss man denken, dass sie - gegen ihren Willen - mit Berliner Akzent zitiert wird."
Auch stört sich die Escort-Dame daran, dass ein von ihr zur Verfügung gestelltes Foto verändert wurde. Sie wirft der Bildredaktion des "Spiegel" vor, ihr "Dekolleté ordentlich ausgeleuchtet" zu haben, Becker widerspricht im "Spiegel"-Blog: Nur das Gesicht sei verdunkelt worden, um Carmens Privatsphäre zu schützen.
Mit der restlichen Kritik könne Becker leben, schreibt er, zitiert aber seinen Kollegen Ole Reißmann von "Spiegel Online", der auf Twitter schrieb:
@afelia @courtisane_de Sorry, Journalisten lassen sich nicht vorschreiben, wie sie gefälligst zu berichten haben. Wär ja noch schöner.
— Ole Reißmann (@oler) 27. Mai 2013
Der Artikel über Carmen erschien im Rahmen der Titelgeschichte "Bordell Deutschland – Wie der Staat Frauenhandel und Prostitution fördert". Auch für die Titelgeschichte hagelt es Kritik von verschiedenen Seiten. Der Anwalt Thomas Stadler etwa wirft dem Spiegel Tendenzjournalismus vor und auch das Online-Magazin "Menschenhandel heute" findet, dass der "Spiegel" die Auseindersetzung zum Thema "Menschenhandel" nicht weiter voranbringt.