
Gastbeitrag:
"Scharfrichter und Blindenhund": JvM-Strategiechefs zum Mafo-Skandal
Marketer ziehen gern die Marktforschung zu Rate und drängen Agenturen zum "Malen nach Zahlen". Aber was, wenn die Zahlen falsch sind? Dann sollte man sich dringend Gedanken machen.

Foto: Jung von Matt
"Raus aus den Laboren. Rein ins echte Leben": Das fordern Christoph Korittke und Christian Gast, beide Head of Strategy bei Jung von Matt, in Anbetracht der "Spiegel"-Enthüllungen um manipulierte Marktforschungsergebnisse. Unter den Kreativen in Agenturen gelten Marktforscher seit jeher als Ideenkiller.
Von Christoph Korittke und Christian Gast
Für uns Agenturen sind Marktforschungsinstitute immer zweierlei: Scharfrichter und Blindenhund.
Scharfrichter, weil sie über unser kreatives Produkt richten und in dieser Funktion schon unzählige vielversprechende Ideen zu Grabe getragen haben.
Blindenhunde, weil sie uns Insights liefern, die uns tief in die Bedürfnisstruktur der Zielgruppe führen sollen.
Auf dem langen Weg zur Zielgruppe werden aus Freunden, die gemeinsam auf Erkenntnissuche sind, schnell Feinde, wenn es um die Beurteilung von kreativen Ideen geht.
So zwiegespalten unser Verhältnis zur Marktforschung sein mag, so klar ist unsere Haltung zu der aktuellen Gemengelage zwischen Marktforschungsinstituten, Agenturen und Marketingabteilungen.
Geschichten aus dem Elfenbeinturm: Die Marktforschungsinstitute
Marktforschung lässt uns in die Köpfe der Menschen sehen und schafft damit wichtige kreative Sprungbretter für Strategen und Kreative – wenn die Insights echt sind.
Natürlich gab es immer eine gewisse Unschärfe, denn immerhin forscht die Marktforschung am Menschen. In den vergangenen Jahren zogen sich die Marktforscher zudem noch immer weiter in ihren Elfenbeinturm zurück. Und die Versuche, aus dem Elfenbeinturm heraus zu telefonieren, wurden immer schwieriger. Nicht nur, weil heute kaum noch jemand über einen Festnetzanschluss verfügt.
Auch Panels laufen immer öfter im Verborgenen ab und verhindern so eine transparente Beweisführung der Erkenntnisse.
Klar, die Fülle an Daten steigt, Algorithmen müssen geheim gehalten werden und Datenschutz wird schärfer. Dadurch wird auf Kundenseite viel Vertrauen abverlangt.
Dieses Vertrauen wird durch die jüngsten "Spiegel"-Enthüllungen stark strapaziert: Der Versuch, aus dem Elfenbeinturm heraus die echte Welt abzubilden, scheitert offenbar regelmäßig.
Vollkontakt: Die Agenturen
Im Gegensatz dazu stehen wir als Agentur jeden Tag mit unserer Arbeit im direkten Kontakt zur ungeschönten Konsumentenmeinung. Der Markt entscheidet sofort und ungefiltert: mit Views, Shares, Klicks, Nichtbeachtung oder Shitstorms.
Jedes digitale Werbemittel liefert unaufhörlich Erfolgs- oder Misserfolgswerte, und Customer Journeys sind in Echtzeit abbildbar. Die Reaktion in sozialen Medien und im Suchverhalten sind ein direkter Klaps auf die Schulter oder eben ein Schlag ins Gesicht. Echtzeit-Alerts geben uns unmittelbar darüber Auskunft, was Menschen antreibt oder aufhält.
Daten sind zur Grundlage unserer Arbeit geworden – in der Vorbereitung wie in der Nachjustierung. Es sind nicht die kleinen Fallzahlen aus den Telefon-Panels – es sind die Massendaten, die uns helfen, jeden Tag besser zu werden und kommende Aufgaben anzugehen.
Stuck in the Middle: Die Marketingabteilungen
Irgendwo dazwischen sitzen die Marketingverantwortlichen und ringen mit der Frage: Soll ich etwas wagen und dann nachjustieren oder erst einmal fragen lassen und kein Risiko eingehen? Viele Marketingabteilungen entscheiden im Zweifel lieber nach Marktforschungsergebnissen – und drängen Agenturen häufig zum "Malen nach Zahlen".
Die Folge: Die eigene Kommunikation schippert in die belanglose Sicherheitszone des Mittelmaßes. Leider eine nachvollziehbare Entscheidung, wenn man bedenkt, welchen Vertrauensvorschuss Marktforschung genießt und wie wenig man angreifbar wird, wenn man Zahlen vorlegen kann. Daten sind in diesem Zusammenhang Versicherung und Selbstschutz. Bei dieser immensen Bedeutung und dem Vertrauensvorschuss, den Marktforschung genießt, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit bis jemand ordentlich schummelt.
Wie weiter?
Erkenntnisse sind das Mittel, nicht der Zweck – wir müssen Studien, Insights und Daten in Zukunft anders betrachten: Nicht als Endprodukt eines Marktforschungsinstituts, nach dem sich alles ausrichtet, sondern als gemeinsame, transparente Arbeitsgrundlage, die sich dynamisch anpasst. Marktforschung liefert durch Forschung das wichtige Fundament, auf dem wir gemeinsam Erkenntnisse verdichten, Strategien entwickeln, Kreation anstoßen und – am wichtigsten – am Ende auch gemeinsam den Erfolg messen. Damit diese Arbeitsgrundlage jeden Tag besser wird, müssen Mafo, Agenturen und Marketing weiter denken.
Wir müssen näher an den Markt, um mehr Datenquellen miteinander zu verknüpfen.
Wir müssen kontinuierlicher messen und lernen, agiler nach den Ergebnissen zu handeln.
Wir müssen besser im digitalen Raum zuhören statt nur punktuell fragen.
Wir müssen Kontexte besser verstehen statt in der Laborsituation zuzuspitzen.
Wir müssen mehr nachsehen und lernen statt vorfiltern und hoffen.
Vor allem aber müssen wir wieder besser und enger zusammenarbeiten, um unser gemeinsames Ziel nicht aus den Augen zu verlieren:
Menschen mit kraftvollen Ideen zu überraschen, die auf wahren Insights beruhen.