Hierarchiefreies Arbeiten in Agenturen:
"Mitarbeiter sind Lohnabhängige, nicht Mitinhaber"
Die Agenturszene sucht nach einem zeitgemäß sortierten Innenleben – und übersieht in ihrem Elan mitunter wesentliche Fragen, stellt Agenturcoach Hans-Gerhard Kühn fest.
Tempo, Tempo! Das vernetzte Heute kennt keine Pausen. Für die Herausforderung wappnen sich Agenturen, indem sie ihr Innenleben neu sortieren. Reibungslos gelingt das selten. Denn in ihrem Elan übersieht die Agenturszene mitunter wesentliche Fragen, stellt Agenturcoach Hans-Gerhard Kühn fest.
Seit mehr als 15 Jahren berät "der Kühn" Agenturen in Organisationsfragen (Kunden: RTS RiegerTeam, Ogilvy, Taste u. a.). Sein Credo: "Ausbruch wagen aus alten Strukturen und Denkweisen". W&V-Autor Martin Bell hat mit ihm über hierarchiefreies Arbeiten gesprochen.
Herr Kühn, wie viel Hierarchiefreiheit empfehlen Sie Agenturen?
Kommt drauf an, was Sie unter "hierarchiefrei" verstehen. Geht es um Befehlslinien wie im Militärwesen? Um formell oder informell geregelte Zuständigkeiten? Um einen neuen Führungsstil, der Entscheidungsbefugnisse auf Zeit vergibt, festgemacht an aktuell erforderlichen Kompetenzen? Hierarchiefreiheit klingt fabelhaft, braucht aber ein Konzept.
Sie haben ein Konzept in der Tasche?
Ich habe vor allem viele Fragen im Gepäck, wenn ich mich mit Agenturchefs zusammensetze. Warum streben viele eine Startup-Kultur an? Welche Erwartungen stehen dahinter? Lässt sich das auf eine gewachsene Agenturstruktur übertragen? Wie kommt man darauf, dass Mitarbeiter unternehmerisch denken und handeln sollen? Was haben sie davon? Schließlich sind sie Lohnabhängige, nicht Mitinhaber.
Also lieber alles beim Alten lassen?
Nein, die Szene beschäftigt sich mit agilen und schlanken Formen des Arbeitens ja nicht aus Langeweile. Es geht darum, zukunftsfähig zu bleiben. Aus diesem Grund ringen Agenturen aktuell um neue Führungs- und Handlungsstrukturen. Doch vieles ist ungeklärt.
Ist die Abschaffung von Jobtiteln wirklich sinnvoll? Was halten Auftraggeber davon? Wie lässt sich das in Abrechnungen abbilden? Und wie stehen die Mitarbeiter dazu? Wollen die das überhaupt? Gerade in der Agenturszene spielen Titel als Karrierestufen eine wichtige Rolle. Übers Knie brechen sollte man grundlegende Veränderungen nicht. Sonst stören sie betriebliche Abläufe, statt sie zu verbessern.
Agenturen, die sich zu viel Zeit lassen, geraten rasch ins Hintertreffen.
Es gilt, weder zögerlich noch überstürzt zu handeln. Im Mittelpunkt muss der Nutzen für den Kunden stehen und damit das Wertschöpfungspotenzial für die Agentur. In zeitgemäßen Strukturen übernehmen mehr Mitarbeiter als bisher Verantwortung für Projekte und erhalten entsprechende Entscheidungsbefugnisse, aber sie übernehmen diese Führungsverantwortung lediglich auf Zeit. Alle Themen, die sich in den Teams regeln lassen, ob Urlaubsplanung oder Personalbedarf, gehören auch in die Hände der Teams. Organisieren sich Mitarbeiter weitestgehend selbst, obliegt es der Geschäftsführung, die Agentur in ihrer betriebswirtschaftlichen Gesamtheit auf Linie zu halten.
Was geschieht mit Mitarbeitern, die keinen Bock auf eigenverantwortliches Arbeiten haben?
Die sind genauso wertvoll wie die anderen. In Agenturen ist in meinen Augen auch künftig Platz für Leute, die ihren Job nach herkömmlicher Art machen und machen wollen. Die Neuordnung des Innenlebens verlangt nicht nach Tabula rasa. Jede Agentur sollte sich aus dem Fundus des Agilen die Bausteine holen, die zu ihr und ihrer Kultur, ihren Mitarbeitern, ihren Kunden und Projekten passen. Der Wandel gibt Gelegenheit, all das wegzulassen, was nicht unbedingt vonnöten ist. Am besten, man überlässt es der Organisation, sich neu zu formen, und begleitet das als Inhaber aufmerksam – und dienend.
Mehr über hierarchiefreies Arbeiten in Agenturen und die innere Organisation bei Unic, Sitegeist, Elbdudler, Wir-Design und Lukas Lindemann Rosinski lesen Sie in der W&V Nr.9. Hier können Sie das Einzelheft bestellen. Unser Abo-Angebot finden Sie hier.