Kreativität:
"Kreativ-Knast": So sehen Experten die Arbeitskultur bei Jung von Matt
Die Schreibtische müssen blitzblank sein. Wahre Kreativität entsteht nicht in der Gruppe. Und wer zum Meeting zu spät kommt, muss draußen bleiben. Fördern diese Maßnahmen, wie sie Jung von Matt einhält, tatsächlich die Kreativität? Wie geht es richtig? W&V Online hat Kreativitätsforscher dazu befragt.
Die Schreibtische müssen am Abend blitzblank aufgeräumt sein. Wahre Kreativität entsteht nicht in der Gruppe, sondern bei einem einzelnen Talent. Dieses braucht für seine Bestleistung absolute Ruhe und Abgeschiedenheit. Die Einblicke, die Thomas Strerath in den Arbeitsalltag bei Jung von Matt gegeben hat, schockieren derzeit die Branche. Die Dislike-Quote und die Kommentare unter dem W&V-Bericht sprechen eine deutliche Sprache: Da ist die Rede vom "Uli Hoeneß der Werbebranche", von "Abwehr der Talente", sogar von "90er-Jahre-Dünnschiss".
Aber ist das Kreativitätskonzept von Jung von Matt nicht vielleicht doch richtig? Fördert ein starres Korsett tatsächlich Exzellenz und Output? W&V Online hat zwei Kreativitäts-Professoren dazu befragt. Und diese sehen die harschen Regeln bei Jung von Matt eher kritisch. Für Stephan Sonnenburg von der Karlshochschule in Karlsruhe jedenfalls ist der leere Schreibtisch nicht der ideale Ausgangspunkt für kreatives Arbeiten: "Wo ist denn da der kreative Stimulus?" Die Vorgehensweise sei doch sehr rigide. "Wie ein Kreativ-Knast", kommentiert er. Zwar sei eine solche Vorgehensweise für jedes Unternehmen durchaus legitim, aber: "Man limitiert sich doch in der Mitarbeitersuche." Sonnenburg stellt die Gegenfrage: "Warum denn nicht unterschiedliche Raumkonzepte einsetzen?"
Jörg Mehlhorn, Wirtschaftsprofessor im Ruhestand, lehrte zum Thema Kreativität an der Fachhochschule Mainz. Er plädiert ebenso für mehr Individualität in der Schreibtischfrage: Es gebe keine "Patentrezepte" für kreatives Arbeiten, sagt er. Die einen bräuchten Chaos auf dem Schreibtisch, bei dem sie besser assoziieren und aus Zetteln und Dokumenten Anregungen mitnehmen könnten. Andere wiederum bräuchten eine weiße Fläche. Eine Monokultur allerdings fördere kein kreatives Klima.
"Mit einem hat Strerath Recht", sagt Sonnenburg: "Es muss Leitplanken geben. Was auch immer die Leitplanken sind. Das könnte beispielsweise das Briefing sein. Da geht der kreative Prozess ja schon los. Je kreativer und inspirierender das Briefing ist, desto besser ist zum Schluss auch die kreative Idee." Sonnenburg plädiert für klare Vorstellungen beim Briefing: "Ein Briefing umreißt das Spielfeld. Es kommt keine Kreativität einfach aus dem Nichts." Auch Mehlhorn würde dem zustimmen. "Leitplanken sollten eine klar umrissene Aufgabenstellung geben. Damit es einen klar definierten Suchraum gibt." Im Prozess selbst allerdings bräuchte es dann für die Kreativen wieder größere Freiheiten. Trotzdem: "Das kreative Ergebnis oder die Innovation ist nicht planbar. Wir reden immer nur über Wahrscheinlichkeiten."
Uneinig sind sich die Experten darüber, ob ein Geistesblitz eher im stillen Kämmerlein eines Einzelnen entsteht oder sich eher in einer Gruppe entzündet. "Den Geistesblitz des Einzelnen gibt es wirklich", glaubt Mehlhorn. Und dafür - hier stimme er Strerath zu - brauche es Ruhe und Abgeschiedenheit, damit die Inkubation eintreten könne im kreativen Prozess. Mehlhorn sagt deswegen auch: "Gruppenarbeit ist kein Allheilmittel." Allerdings schränkt Mehlhorn diese Erkenntnis auch ein: "Viele Wege führen nach Rom." Und manchmal sei es dann doch besser, wenn man sich nach mehreren Tagen ergebnislosen Brütens mit Kollegen bespricht und das Problem neu reflektiert.
Sonnenburg, der früher für Agenturen wie Heller & Partner und Economia selbst in der Branche gearbeitet hat, wiederum glaubt an mehr Kreativität im Kollektiv. Der Professor hat selbst über Kreativität und das Zusammenspiel in Gruppen geforscht. Sein Ergebnis: "Nach aktueller Forschung ist Kreativität ein prozessuales Phänomen." Forschungen hätten beispielsweise gezeigt, dass ein Einzelner bei Brainstormings weniger Output liefere als die Gruppe. Optimale Ergebnisse gäbe es bei Gruppen von drei bis fünf Leuten. Wenn mehr als fünf Leute beteiligt seien, würde ein selbstverstärkender Trittbrettfahrereffekt einsetzen.
Brainstormings als solche müssten jedoch immer wieder aufs Neue trainiert werden. Die Forschungen an Sonnenburgs Hochschule hätten beispielsweise auch ergeben, dass manche Teams in dieser Phase zu früh aufhören und sich zu früh zufrieden geben, also statt der optimalen 30 bis 90 Minuten für das Brainstorming nur 20 Minuten benötigen. Der sogenannte "Saturationpoint" würde eintreten. "Wenn man aber diesen inneren Schweinehund überwindet, so haben es Studien gezeigt, kommen trotz Quälerei hinterher die besseren Ergebnisse heraus."
Auch bei Jung von Matt bleibt das Strerath-Interview nicht ohne Nachhall. Die Agentur hat ihren Weg gefunden, mit dem kleinen Shitstorm auf eigene und kreative Weise umzugehen. Auf Facebook wurde flugs Folgendes gepostet: "Bei Jung von Matt arbeiten nur Arschlöcher! Finde raus, wie es wirklich ist: jvm.de/jobs".