Was soll sich denn verändern?

Der Kunde hat heute sehr viel mehr Macht über die Marke und kann mit ihr sehr viel mehr anstellen. Wenn Du als Unternehmen sicherstellen willst, dass dieser Konsument mit deiner Marke respektvoll umgeht, musst du dich selbst gut und ethisch korrekt verhalten.

Wie kann das gehen?

Eine Marke muss einen behandeln wie einen Freund und versuchen, dein Freund zu werden. Du wirst kein Freund von jemandem, dem du nicht vertraust. Und etwas, dem du nicht vertraust, kaufst du nicht. Der Kunde ist eine individuelle Person, auf die ich individuell eingehen muss.

Wenn man Ihren Thesen Glauben schenken darf, sind wir aber eher Massentiere und handeln alle nach dem gleichen Muster. Sind wir alle so leicht zu manipulieren?

Aber ja, wir sind alle die gleichen! Natürlich sollte ich als Marketing-Mensch eher resistent gegenüber solchen Mustern sein, aber sie greifen auch bei mir. Wir wollen uns reproduzieen, wir wollen Kinder bekommen, uns wohlfühlen, wir sind abhängig von starken Beziehungen. Man würde meinen, dass man als gebildeter Mensch mehr Abstand zu diesen Dingen hat. Dem ist aber nicht so. Sehen Sie sich die Politiker an, die immer wieder in die gleiche Falle laufen. Sie wissen, dass ein Sex-Skandal jede Menge schlechte Presse und das Ende ihrer Karriere bedeuten kann. Trotzdem werden immer wieder neue Sex-Skandale aufgedeckt. Aber wir Kunden können uns natürlich schon fragen, wie lange wir diesen Mustern weiter folgen wollen.

Sie sind selbst ein Jahr auf Marken-Diät gegangen, schreiben Sie in Ihrem Buch und haben darauf verzichtet, neue Marken zu kaufen und zu benutzen. Hauswein und No-Name-Produkte statt Markenware u.ä. Haben Sie einen Jojo-Effekt bei sich festgestellt? Hat ihre Marken-Affinität zugenommen? Nutzen Sie heute mehr Marken?

Es hat sich etwas durch diese Diät verändert. Ich bin heute aufmerksamer und skeptischer gegenüber Marken. Und ich sage mir bewusst: Ja, ich tappe jetzt bewusst in diese Falle. Ich gehe zu McDonald’s und ich weiß ganz genau, dass ich jetzt in einen Burger mit viel Fett beiße – aber ich habe mich bewusst dazu entschieden. Das können die Unternehmen ebenso nutzen, indem sie genau diesen Effekt für sich nutzen.

Wie das?

Wenn ich als Unternehmen weiß, ich habe Seiten an meinem Produkt, die nicht so positiv sind, dann muss ich damit offensiv umgehen. Wenn ich also beispielsweise ein Hersteller von Saucen bin und weiß, da ist ein problematischer Bestandteil drin, dann würde ich dazu raten: Schreiben Sie es in dicken Lettern auf die Flasche! Dann kann sich der Konsument bewusst entscheiden und sagt sich: Ja, die Sauce ist fettig, aber sie schmeckt nun mal lecker und ich kaufe sie. So bleibt der Konsument der authentischen Marke treu. Wie wäre es denn anders herum? Sagen wir, im Nachgang stellt sich heraus, dass die Sauce ihre Fehler hat und jahrelang darüber gelogen wurde. Dann würde dies in Windeseile viral verbreitet und ich hätte keine Kontrolle mehr, was mit meiner Marke geschieht. Im Endeffekt schadet das meiner Marke.

Sind Marken heute noch aus den Marketingabteilungen steuerbar?

Heute kann kein Unternehmen es sich leisten, die negativen Aspekte einer Marke zu verschleiern. Sehen Sie sich an, was mit Nike oder mit Apple und den Skandalen bei Foxconn passiert - das verbreitet sich rasend schnell im Social Web. Die Regeln haben sich evolutionär und radikal geändert und sind komplett neu: Es gibt immer noch die antiquierten Marketingabteilungen, die von oben herab die komplette Kontrolle über ihre Marken haben wollen und dazu eine überängstliche Rechtsabteilung. Aber das funktioniert heute so nicht mehr. Die wenigsten Unternehmen sind schon an die mündigen Konsumenten gewöhnt, die Marken nach ihren Vorstellungen nutzen, über sie Dinge verbreiten und bewerten.

Was wird sich ändern?

Ich bin überzeugt: Bald wird es ein Wikileaks für Marken geben. Wir erleben mit der Occupy-Bewegung, wie wichtig die Basis im Web ist. Und diese Entwicklung macht auch vor den Marken-Produzenten nicht Halt.

Sie beschreiben in Ihrem Buch ein 3-Millionen-Dollar teures Guerilla-Marketing-Experiment. Sie haben eine gutsituierte, gut aussehende Familie eine Nachbarschaft mit ihren Markenbotschaften infiltrieren lassen und nach einigen Wochen festgestellt, dass das aus dem Umfeld der Familie Morgenson jeder andere mindestens drei der empfohlenen Marken gekauft hatte. Das ist erschreckend. Wann sind wir besonders empfänglich für Marken-Botschaften?

Immer dann, wenn wir uns besonders sicher und stark fühlen und am wenigstens von anderen Einflüssen beeinträchtigt, dann erreichen uns Botschaften am allerbesten. Dann nämlich sind unsere inneren Wächter heruntergefahren, sind nicht alarmbereit und die Botschaften können direkt vordringen. Wie in unserem Experiment, da waren ja alle in ihrem Umfeld und in ihrer Freizeit. Und wie beispielsweise in einem Apple-Store. Jeder, der da hineingeht denkt doch, es geht hier um Entertainment, sich hier zu amüsieren und nicht darum, dass ihm etwas verkauft werden soll. Und genau so treibt Apple seine Umsätze in die Höhe.

Sie bemängeln auch die Verkaufe an immer jünger werdende Zielgruppen…

Junge Menschen sind im Zeitalter von Facebook gerade heute besonders unsicher. Unsichere Menschen sind aber besonders markenaffin. Die Jugendlichen ebenso. Sie wollen sich mit dem Konsum bestimmter Marken aufwerten und damit zu ihrer Gruppe aufschließen. Wenn das so weiter geht, wächst eine neue Generation unsicherer Leute in Gucci-T-Shirts heran.

Aber Marketing für Kinder ist ja nicht mehr verzichtbar, der Trend nicht umkehrbar. Was sollte ein ethisch korrekt handelndes Unternehmen tun?

Es sollte sich mit den Eltern verbünden. Umfassende Umfragen machen und in jedem Stadium ihrer Kommunikation Rückfrage halten mit den Eltern: ‚Fühlt Ihr Euch damit wohl? Gehen wir zu weit?‘ Wenn Unternehmen diesen ethischen Gesundheitscheck nicht durchführen, schadet das über kurz oder lang ihrer Marke. Eltern, die aber in den Marketing-Plan miteinbezogen wurden, werden die Marke viel mehr respektieren. Und sie sind immer noch die, die den Kindern die Marken kaufen. Sie fühlen sich in ihrem Elternsein sehr verletzlich und leiden mit ihren Kindern, auf die ein großer Gruppendruck ausgeübt wird.

Die Marketingmaschine zur Vermarktung Ihres neuen Buches läuft gerade an. Auch Sie bedienen sich einiger Methoden die teilweise recht laut sind. Wer den Like-Button auf Facebook klickt, bekommt zum Beispiel ein freies Kapitel ihres Buches zu lesen…

Ja, zugegeben, manche meiner Methoden sind hart an der Grenze. Ich muss diesen Wirbel machen, sonst dringe ich mit meiner Botschaft nicht durch.

Wie sieht der die ideale Marketing-Welt des Martin Lindstrom aus?

Ich hoffe, dass der Kunde einen realistischeren Blick auf die Marketingwelt bekommt, dass er beim Einkaufen besser auf die Fallen vorbereitet ist, die ihn umgeben und dass er diesen mit mehr Selbstbewusstsein entgegen tritt. Für die Unternehmen hoffe ich, dass dieses Buch ein „Wake-up-call“ ist. Die CEOs müssen sich bewusst werden, dass auch sie letzten Endes Kunden sind. Und sie müssen sich am Ende des Tages mit dem, was sie tun, selbst wohlfühlen können. Das können sie nur, wenn sie ehrlich und authentisch sind – zu ihren Kunden.


Autor: Anja Janotta

seit 1998 bei der W&V - ist die wohl dienstälteste Onlinerin des Hauses. Am liebsten führt sie Interviews – quer durch die ganze Branche. Neben Kreativ- und Karrierethemen schreibt sie ab und zu was völlig anderes - Kinderbücher. Eines davon dreht sich um ein paar nerdige Möchtegern-Influencer.