Wenn mir der Koffer im Hotel eingeräumt wird, ich in der Umkleide genau gesagt bekomme, was mir steht und mir meine Hemden gewaschen und gebügelt nach Hause gebracht werden – was macht das mit unserer Gesellschaft? Und welche Rolle spielt eigentlich der Preis? 

"Die Waschmaschine hat mich und Millionen andere Menschen 1906 davon befreit mit meinem Waschbrett stundenlang an der Isar zu sitzen - und ich würde sagen, ich nutze diese Zeit recht sinnvoll. Wenn sie ihre frei gewordene Zeit lieber damit verbringen, auf ihrer Couch ein apathischer Blob zu werden, ist das ihre Entscheidung und sagt mehr über sie aus, als die Möglichkeiten von Customer Experience Design. 

CX (durch Automatisierung oder immer besseres Kundenverständnis) wirkt aus meiner Sicht demokratisierend: Ein Einkaufs-Lieferdienst entlastet eine junge Familie, eine automatische Buchhaltung den Selbstständigen und ein 'magischer Spiegel' verhindert, dass ich aus Unwissen Klamotten kaufe, in denen ich aussehe, als hätte sich kein einziger ehrlicher Mensch gefunden, der mich davon abhält. Dinge, die lange verschiedenen Eliten vorbehalten waren sind nun für viele möglich. Mein Butler James heißt heute ganz un-aristokratisch Persil-Service, Waymo etc. Am Ende wird gekauft, was Freiheit schafft.  

Die Frage nach dem Preis ist insofern spannend, da Automatisierung die Grenzkosten senkt. Prozessoptimierung hat den spektakulären Aufstieg der Discounter erst möglich gemacht und geholfen, Millionen von Menschen im Alltag kostengünstig zu versorgen. Die Stummelkasse hingegen wirkt zwar optimierend, ist aber kundenfeindlich - das muss man anders lösen. Preis ist auch eine Komponente von CX, nicht luxuriös, aber wertvoll.

Business Optimierung mit Data Driven Operating Models ist für alle Marken, ob high oder low end, technologisch gerade erst greifbare Wirklichkeit geworden. Deshalb appelliere ich, dass CX nicht immer nur in die Luxus-Ecke gesteckt wird. CX ist in seiner Grundidee demokratisierend."

Du sagst, dass Kunden, die mit einer Marke schon gute Erfahrungen gemacht haben und das Unternehmen schon länger kennen, ihre Daten eher preisgeben als solche, die neu mit einem Unternehmen in Berührung kommen. Warum? Und welche Chance liegt darin für Marken?

"Kundenbeziehungen leben entlang zweier Achsen. Eine horizontale temporär-historische Dimension und eine vertikale auf der Maslowschen Pyramide. Die horizontale Achse ist eine Vertrauensachse: Bin ich mit einer Leistung zufrieden und beziehe sie regelmäßig, entwickelt sich oft ein Vertrauensverhältnis, anhand dessen das Unternehmen meinen Service optimieren und auf mich zuschneiden kann. Soweit nichts Neues, das Ganze geschieht heute nur individueller und datengetriebener. Sofern ich vertraue und klar kommuniziert ist, wofür meine Daten erhoben werden, machen Kunden gerne mit.

Die vertikale Achse ist oft komplizierter für Unternehmen zu verstehen. Sie erstreckt sich über die Maslowsche Pyramide der Bedürfnisse - je höher die Stufe, desto persönlicher und sensibler oft die erhebbaren Daten. Dabei haben einzelne Marken irgendwo in der Hierarchie ihren Platz oder erstrecken sich mit manchen Produkten über mehrere Ebenen. 

Der Zugang zu Toilettenpapier und Bankkonto befriedigt in unserer Gesellschaft die gleiche Basis- Bedürfnisebene, doch stretcht sich die Bank z.B. als Verwahrer des Studiensparfonds meines Kindes über die Grundbedürfnisse hinaus und kann daher mehr Daten erheben als der Bäcker um die Ecke. Eine Fluglinie oder ein Kamerahersteller sitzt ebenfalls weiter oben in der Pyramide. 

Was heißt das jetzt konkret: Wenn Tiffany‘s (aus offensichtlichen Gründen) weiß, wann ich Hochzeitstag habe, und mir 3 Tage vorher einen Reminder und Glückwünsche schickt, dann finde ich das gut und hilfreich. Wenn mir der Waschmittelfuchs in einem Display-Banner ebenfalls dazu gratuliert, finde ich das übergriffig. Gleicher Datensatz, unterschiedliche Empfindung.  Wenn der Discounter basierend auf meinen Daten sein Warensortiment optimiert und mir bewirbt ist das wiederum legitim und gewünscht.

Folglich müssen Marken sich über ihren Kundenmehrwert auf der Pyramide und der Zeitachse bewusst sein und dann sensibel und vertrauenswürdig mit den Daten umgehen. Dabei ist ihre Position auf einer Stufe keine Wertung sondern eine gute Richtlinie, ab wann Personalisierung nach hinten losgehen kann. 

Hattest Du selbst mal ein richtiges Aha-Erlebnis in Sachen Customer Experience und wenn ja, welches?

"Meine Winterreifen sind aus Platzgründen eingelagert. Ich bekam neulich ein Schreiben, in dem ich nicht nur auf die Termine zur Reifenwechsel-Saison hingewiesen wurde. Es wurde mir dazu noch ein 3D-Scan meiner Reifenprofile beigelegt mit einer Beschreibung zum Zustand und sicherheitsrelevanten Faktoren. Dabei wurde mir bescheinigt, dass ich bei normalem Verschleiß noch eine Saison damit fahren könne, oder zu meinem Termin schon die passenden Reifen zum Preis XY erwerben könnte - mit Online-Buchung.  Ich war begeistert, da ich nicht nur Informationen hatte, um meine eigene Entscheidung zu treffen, sondern auch ein (faires) Angebot und die Convenience, einfach nur „ja“ sagen zu müssen.  

Von Markenseite ein hervorragender Kundenservice, Upsell Potenziale genutzt, merkwürdige Verkaufsgespräche vermieden, und der Kunde bestellt nicht aus Versehen wegen 30 Euro Differenz selber womöglich die falschen Reifen (mir schon passiert) und legt den halben Betrieb lahm."

Auf Eurer Website heißt es: „Pflegen Sie Ihre Kundenbeziehungen, als würde Ihre Zukunft davon abhängen“ – hängt die Zukunft der Unternehmen an guten Kundenbeziehungen? Ist das den deutschen Unternehmen klar und welche Probleme gibt es dabei noch?

"Hier kommt der feine Unterschied, der gerne fälschlicherweise synonym verwendet wird, zwischen und Kundenerlebnis (Aktion) und Kundenzufriedenheit (Ergebnis) zum Tragen: Die Welt und ihre Produkte sind mit einigen wenigen Suchbegriffen viel vergleichbarer und transparenter geworden und haben damit auch neue Preisintoleranzen geschaffen. Warum sollten sie auch noch mehr zahlen, wenn alle Reviews schlecht sind? Aufpreise können sie nur noch aufgrund von überragenden Produkten (schwierig), Brand (langwierig und teuer) oder eben Kundenerlebnissen erzielen. CX Leader haben eine 1,7x höhere Kundenloyalität und einen 1,6x höheren Customer Lifetime Value - ein starkes Argument in einer Welt, in der Vergleichbarkeit und Überangebot herrschen.  

In der aktuellen Adobe „Mind the Data Gap“-Studie sehen wir zum Beispiel, dass CXM laut der Unternehmen häufig an internen Silos (30%), technischen Skills (24%) und einer einheitlichen Technologieplattform (24%) aufgehalten wird. KI wird aber mittlerweile von spektakulären 43% als Wegbereiter für besseres CX und Customer Insights gesehen, was schon mal positiv stimmt.

Deutsche Unternehmen stellen Kundenzufriedenheit bisher häufig über Produktqualität her und sind zu Recht stolz auf ihre Leistungen, kämpfen aber zunehmend mit dem schnellen Lernerfolg anderer Wirtschaften. Ich bin mir sicher, dass wir in einer IOT- Welt weiter die robustesten Sensoren und am sichersten vernetzen Maschinen bauen - doch verlagert sich Wertschöpfung zunehmend ins Digitale und damit steigt auch der Bedarf an gutem CX. Es ist also mehr die Frage, welche Wirtschafts- und Wachstumspotenziale wir auf dem Tisch liegen lassen, wenn wir uns nicht damit beschäftigen. Für innovative Kundenempathie gibt es eben keine DIN-Norm."

 Julian Kramer ist Chief Experience Ambassador EMEA bei Adobe.                     

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