Youtube 2016:
Hirn aus, Kamera an: Mehr Trash war nie
Noch vor wenigen Jahren galten Youtuber als die neuen Fernsehmacher. Heute gilt: Gemacht wird, was Klicks bringt. W&V-Autor Moritz Meyer über eine Videoplattform am Scheideweg.
Man weiß gar nicht so recht, mit welcher Geschmacklosigkeit man anfangen soll, wenn man das Youtube-Jahr 2016 beschreiben möchte. Witze übers Schwulsein, Badewannen voller Schleim, Menschen, die sich in Lebensmitteln wälzen, Möchtegern-Pornostars und Bombenattrappen in Fußgängerzonen: Mehr Trash war nie auf Youtube. Dabei galten Youtuber noch vor wenigen Jahren als die neuen Fernsehmacher. Was ist da schief gelaufen?
Worin Simon Desue in diesem Jahr gebadet hat: Nutella, Wackelpudding, Eiswürfel, Schleim. Letzteres mehrfach. Was Simon Desue in diesem Jahr im Gesicht hatte: Kleister, eine extrem klebrige, schwarze Gesichtsmaske, Wäscheklammern. Simon Desue ist laut, eklig und nervt. Und er ist einer der erfolgreichsten Youtuber 2016, mit bis zu 50 Millionen Videoabrufen pro Monat. Desue ist schon seit vielen Jahren auf Youtube dabei. Angefangen hat er als "Halfcast Germany".Schaut man sich Desues Videotitel (“GREATEST FREAKOUT EVER!!!!?”) und marktschreierischen Thumbnails von vor einigen Jahren an, muss man feststellen: Er war seiner Zeit wohl einfach voraus. Sein Rezept: Wenn ich das Niveau nicht erreichen kann, wird es schon irgendwann zu mir runter kommen.
Früher war Youtube frisch, neu, revolutionär
Noch vor einigen Jahren hätte niemand diese Entwicklung vorausgesehen. Stars wie Y-Titty oder LeFloid produzierten auf hohem Niveau und mit großem Aufwand. Und die etablierten Fernsehsender rieben sich verwundert die Augen: Wer waren diese Leute, die es scheinbar aus dem Nichts geschafft hatten, ein Millionenpublikum zu erobern? David Hain gehört zu denen, die mit dabei waren, als innovative Youtube-Formate das Fernsehen herausforderten. Als Redaktionsleiter des Tech&Gaming-Magazins "Giga" baute er im Jahr 2012 eine der ersten deutschsprachigen Magazinsendungen auf Youtube mit auf. Damals fühlte sich Youtube frisch, neu, revolutionär an. Über das Youtube von heute sagt Hain: "Wenn ich auf die Startseite gucke, habe ich sofort schlechte Laune." Seinem Frust machte er im März 2016 auf seinem eigenen Kanal "BeHaind" mit dem Video “YouTube - Eine BeSCHANDsaufnahme” Luft. Darin stellte er fest: "Youtube ist zu einem Assi-TV geworden". Was Hain damals nicht ahnen konnte: Die schlimmsten Peinlichkeiten des Jahres sollten noch kommen.
Einen so traurigen wie beschämenden Tiefpunkt setzte der notorische Krawall-Youtuber ApoRed, als er im Sommer Menschen eine Tasche mit einer Bombenattrappe vor die Füße warf und diese damit verständlicherweise in Todesangst versetzte. Der darauf folgende Shitstorm schadete seiner wachsenden Beliebtheit bei den Zuschauern kaum. Im Gegenteil: ApoRed sollte schon bald wieder für Schlagzeilen sorgen, aber dazu später mehr.
Voll heftig, dieses Real-Life!
Vorher lohnt es sich, noch kurz auf Mert Matans "Gay-Prank" einzugehen. In diesem Video eröffnete der türkischstämmige Matan seinem Vater, dass er schwul sei. Woraufhin dieser total ausflippte und seinen Sohn verprügelte, bis dieser den "Scherz" aufklärte. Klar, dass diese "megakrasse Reaktion" ihren Weg ins Netz finden musste. Selbst Bild.de fand daraufhin "Vier Gründe, warum Mert Matan homophob ist". Dass Matan im Nachhinein versuchte, die ganze Aktion zum "Sozialen Experiment" umzudeuten, machte es nicht besser. Angeblich, so Matan, sei alles gescriptet gewesen. Soviel zur viel beschworenen "Authentizität" von Youtube.
Eine sehr authentische Reaktion erlebten allerdings die Youtuber Leon Machere und der bereits erwähnte ApoRed als sie ihre sogenannten "24-Stunden-Videos" veröffentlichten. Dafür ließen sie sich über Nacht in Möbelhäusern und Schnellrestaurants einschließen. Woraufhin die Geschäftsinhaber sie kurzerhand anzeigten. Voll heftig, dieses Real-Life! Das hinderte andere, zum Teil deutlich jüngere Youtuber allerdings nicht daran, die Gesetzesverstöße ihrer großen Vorbilder nachzuahmen.
Hirn aus, Kamera an!
Gemacht wird, was Klicks bringt. Denn nur so können Youtuber vom Schlage Mert Matan und ApoRed noch verlässlich Geld verdienen. Vermarktbar sind derartige Krawall-Youtuber kaum, sagt Sarah Kübler, Chefin der Influencer-Plattform "HitchOn". Im Gegenteil: Sie vergraulen die Kundschaft: "Nach dem Gay-Prank hatten viele Kunden Vorbehalte, mit ihrer Kampagne auf YouTube zu gehen", berichtet Kübler. Da war erstmal Überzeugungsarbeit angesagt. Inzwischen spürt Kübler ein Umdenken: Statt den in Verruf gekommenen Produktplatzierungen wünschen viele Kunden eine langfristige Kooperation, verbunden mit dem Aufbau eines eigenen Kanals.
Auch die Multi-Channel-Networks gehen auf Abstand zu den unberechenbaren Krawallmachern. Mert Matan und TubeOne Networks gehen seit dem Gay-Prank getrennte Wege. Und noch vor ein paar Jahren wäre es keine Frage gewesen, jemanden wie ApoRed aufzunehmen, der immerhin 35 Millionen Views an monatlicher Reichweite mitbringt. Heute überlegen sich das alle zweimal, bestätigt ein Mitarbeiter eines großen deutschen Netzwerks, der ungenannt bleiben möchte.
Eine große Blase, kurz vorm Platzen
Dies sind erste Anzeichen, dass der große Hype um die Influencer abflaut. Noch will jeder mitverdienen am großen Geschäft mit den vermeintlichen Social-Media-Stars. Inhalte spielen dabei selten eine Rolle, es geht ausschließlich um Reichweite, um angeblich existierende Communitys, die Marken und Produkte entdecken sollen. David Hain beschreibt den überdrehten Markt so: "Ich blicke nicht mehr durch, wer da wer ist. Ich kriege Anfragen von irgendwelchen Leuten, die noch nie auf meinen Kanal geguckt haben, ob ich Videos für ein Friseurstudio machen könnte." Er sieht eine große Blase, die kurz vorm Platzen stehe. "Youtube ist jetzt an dem Punkt, an dem andere Medien schon vor Jahren angekommen sind. Die größte Reichweite wird mit dem größten Schrott erzielt."
Bei Youtube selbst sieht man das naturgemäß etwas anders. "Langfristig setzt sich Qualität durch", sagt Henning Dorstewitz, Sprecher von Youtube Deutschland. Bestätigt sieht er sich in dieser Einschätzung durch die jüngst veröffentlichten Top 10 der meistgesehenen Videos des Jahres 2016. Neben einem reichlich unlustigen Videoschlagabtausch zwischen Bibi und ihrem Lebensgefährten Julienco stechen vor allem die Videos von Künstler Julien Bam heraus, der seit vielen Jahren mit einfallsreichen und aufwändigen Clips für Furore sorgt. Ebenfalls in den Top 10 dabei: Jan Böhmermanns, der mit seinem "Verafake" RTL narrte, und die Satireredaktion Extra 3 mit ihrem Lied "Erdowie, Erdowo, Erdowann". "Das zeigt, dass die etablierten TV-Sender immer mehr auf der Plattform ankommen und verstehen, wie sie funktioniert", kommentiert Dorstewitz.
Youtube steht am Scheideweg
Das Ende des Musikfernsehens, des letzten großen Jugendmediums vor Youtube, wurde kurz nach der Jahrtausendwende eingeläutet, als Klingelton-Werbung, der bekloppte Frosch und Reality-Shows wie "Jackass" die Programmplätze füllten. Von diesem Zustand ist Youtube nicht mehr weit entfernt. Google muss dringend etwas dafür tun, dass die durchaus vorhandenen, hochwertigen Inhalte auch wieder ihr Publikum finden. Sonst wird man sich an Youtube an die Plattform erinnern, auf der ein junger Mann mit schlechter Frisur eine Arschbombe in eine Badewanne voller Glibber machte.