Programmänderungen:
Die deutschen Medien und der Terror in Paris
Sondersendungen im Fernsehen zu den Terroranschlägen am Freitag in Paris waren das ganze Wochenende über eine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus verbietet das Taktgefühl augenblicklich Comedy und Thriller. Und eine Verbindung zum Thema Flüchtlinge.
Sondersendungen im Fernsehen zu den Terroranschlägen am Freitag in Paris waren das ganze Wochenende über eine Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus verbietet das Taktgefühl augenblicklich Comedy und Thriller. Und das nicht nur unmittelbar.
Aus Respekt vor den Opfern der Anschläge in Paris verschiebt die ARD die für diesen Monat geplante "Tatort"-Doppelfolge mit Til Schweiger ins nächste Jahr. Sie sollte ursprünglich am kommenden Sonntag (22. November) und eine Woche später (29. November) zu sehen sein. "Es passt einfach nicht in diese Wochen, eine Krimireihe zu zeigen, in der es auch um einen terroristischen Angriff geht", teilte der NDR-Programmdirektor Fernsehen, Frank Beckmann, am Montag in Hamburg mit. Als neuen Termin für die Hamburg-Folgen mit Kommissar Nick Tschiller nannte Beckmann "voraussichtlich Januar". An den freigewordenen Sendeterminen sehen "Tatort"-Fans zwei andere "Tatort"-Premieren: am 22. November ist Maria Furtwängler als Kommissarin Charlotte Lindholm in "Spielverderber" im Einsatz. Eine Woche später ermittelt Axel Milberg in "Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes".
Am vergangenen Wochenende haben die großen Fernsehsender unmittelbar ihre Programme geändert und die Talkshows dem Thema Terror in Paris gewidmet. Das ZDF verschob seine für diesen Samstagabend um 20.15 Uhr vorgesehene Show zum 50-jährigen Bühnenjubiläum von Komiker Otto Waalkes auf einen späteren Zeitpunkt, teilte der Sender mit. "Wir bitten die Fans um Verständnis dafür, dass wir die bereits aufgezeichnete Comedy-Show nach den schrecklichen Anschlägen in unserem Nachbarland heute Abend nicht ausstrahlen wollen", sagte Programmdirektor Norbert Himmler. "Wir werden einen geeigneten Ersatztermin dafür finden." Stattdessen wurde ein Krimi aus der Reihe "Ein starkes Team" gezeigt. Zuvor war das Programm ab 18.30 Uhr den Pariser Ereignissen gewidmet.
In der ARD wich die für 20.15 Uhr geplante Premiere des Films "Die Diplomatin" nach der "Tagesschau" einem "Brennpunkt" zum Thema "Terror in Paris" (4,71 Millionen Zuschauer; 15,5 Prozent ab 20.15 Uhr). Um 21.00 Uhr folgt eine Extra-Ausgabe der Talkshow "Hart aber fair" mit Frank Plasberg (3,74 Millionen, 12,2 Prozent). Das ZDF erreichte mit seinem "ZDF spezial: Terror in Paris - Trauer, Täter, Hintergründe" um 19.35 Uhr 3,59 Millionen (13,0 Prozent). Am späteren Abend schalteten ab 22.15 Uhr im Schnitt 2,06 Millionen (8,5 Prozent) die Talkshow "Maybrit Illner spezial" ein.
Bei Phoenix diskutierten in der Runde "Terror in Paris" die französische Journalistin Cécile Calla, der Terrorexperte Michael Lüders, "Cicero"-Chefredakteur Christoph Schwennicke und Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft. Der Nachrichtensender N-TV zeigte bis Mitternacht am Samstag regelmäßig Sondersendungen zum Thema Paris. Der Privatsender RTL brachte ab 18.45 Uhr ein "RTL aktuell Spezial" mit Peter Kloeppel bis 20.15 Uhr (2,98 Millionen, 11,4 Prozent). Das Magazin "Explosiv" entfiel. Die Sondersendungen seien werbefrei, teilte der Sender mit. RTL II kündigte an, seinen für Samstag geplanten Kriegsfilm "Jarhead - Willkommen im Dreck" aus dem Programm zu nehmen. Im Anschluss wurde an Stelle des Irak-Thrillers "Green Zone" der Haifisch-Horrorfilm "The Reef - Schwimm um dein Leben" gesendet.
Obwohl die Nachrichtenseiten im Netz Hochkonjunktur hatten und mobile Dienste wie Periscope live Bilder von den Tatorten übertrugen, war das klassische Fernsehen gefragt. Nach dem Fußballspiel am Freitag blieben mehr als neun Millionen im Ersten länger dran. Um Mitternacht waren es immer noch mehr als drei Millionen. Der Nachrichtensender N-TV verbuchte über die ersten drei Stunden seiner Berichterstattung durchschnittlich knapp 600 000 Zuschauer - extrem viele für einen kleinen Sender.
In Frankreich reagieren auch die Kinoverleiher: Nach den Terroranschlägen von Paris kommt der Thriller "Made in France" vorerst nicht in die Kinos. Der für 18. November geplante Start sei verschoben worden, hieß es auf der Webseite des Filmverleihs Pretty Pictures. Der Film des französischen Regisseurs Nicolas Boukhrief handelt laut "Hollywood Reporter" von einem muslimischen Journalisten, der sich Zugang zu einer islamistischen Terrorzelle verschafft, um Informationen über einen geplanten Terroranschlag in Paris herauszufinden. Der Thriller sollte ursprünglich bereits zu Jahresanfang herauskommen. Nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" im Januar war der Start bereits einmal verschoben worden. Die für Montag in Paris geplante Premiere des Films "Jane Got a Gun" mit Natalie Portman wurde gestrichen. Die Pariser Premierefeier von Steven Spielbergs Werk "Bridge of Spies", die für Sonntag geplant war, entfällt.
In den USA kündigte CBS an, eine für diese Woche geplante Episode seines Hits "NCIS: Los Angeles" nicht zu zeigen. Eine Folge der neuen Serie "Supergirl" werde vorerst verschoben. Bei "NCIS" geht es um ein vermisstes Mädchen, das verdächtigt wird, sich einer Terrororganisation angeschlossen zu haben. "Supergirl" sollte eigentlich die fiktive National City vor einer Serie von Bombenanschlägen retten. Beide Episoden würden noch gezeigt, aber erst später im Jahr, hieß es vom Sender. Für diese Woche würden andere Folgen vorgezogen.
Die Premiere des letzten "Tribute von Panem"-Films in Los Angeles wird in kleinerem Rahmen gefeiert als geplant. "Aus Respekt um die Ereignisse von Paris haben wir beschlossen, den roten Teppich zu verkleinern", teilte das Filmstudio Lionsgate mehreren US-Medien mit. Es werde keine Interviews am roten Teppich geben. Im Übrigen sollte die Gala am Montagabend aber wie geplant stattfinden. "Die Tribute von Panem - Mockingjay Teil 2" läuft am Donnerstag in den deutschen und am Freitag in den US-Kinos an.
Die Medien berichteten am Wochenende fast rund um die Uhr über die Schrecken vom Freitag. Sie zeigen, dass auch journalistische Profis ihre Grenzen haben. Wie die Fußballexperten Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl im Ersten. Opdenhövel rang vor rund neun Millionen Zuschauern live um Informationen, weil er nur spärlich versorgt wurde, während Scholl fast nur ein fassungsloses Schweigen mit dem Mikro in der Hand blieb. Stadionreporter Tom Bartels erfuhr etwa in der 75. Minute von einer Redakteurin, dass es in Paris viele Tote gibt, wie er in der "Bild am Sonntag" berichtet. "Auf so etwas Furchtbares kann man sich nicht einstellen oder vorbereiten", sagte der 50-Jährige. "Wenn ich früher die Dimension gewusst hätte, hätte ich am besten gar nichts mehr gesagt. Die Informationen kamen ja nur nach und nach."
Ein Zwischenlob erhielten die Reporter am Samstag vom neuen Bundesvorsitzenden des Deutschen Journalisten-Verbandes, Frank Überall: "Die Journalistinnen und Journalisten haben sich bewusst die Zeit genommen, das zu tun, was ihre Aufgabe ist - sauber recherchieren", sagte Überall der Deutschen Presse-Agentur. Die meisten Medien hätten sich wohltuend von der Aufgeregtheit dubioser Internetquellen abgehoben. "Im übrigen müssen wir uns immer bewusst machen, dass eine Angst schürende Darstellung in der Öffentlichkeit genau das Ziel ist, das Terroristen verfolgen. Vor diesen Karren perfider Stimmungsmache dürfen sich Medien nicht spannen lassen."
Die sozialen Medien waren voll mit Solidaritätsbekundungen, aber auch mit Debatten. "Welt"-Kolumnist Matthias Matussek steckte im Netz Schelte für diesen Facebook-Eintrag ein: "Ich schätze mal, der Terror von Paris wird auch unsere Debatten über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen." Dahinter platzierte er einen lachenden Smiley. Sein Chefredakteur, Jan-Eric Peters, distanzierte sich im Namen der "Welt", "die für andere Werte steht, für Freiheit und Menschlichkeit". Matussek tauschte den Lach-Smiley gegen einen traurigen aus. Er fügte dazu, dass "diejenigen, die mich kennen, wissen, dass es als Ausdruck sarkastischer Verzweiflung gemeint war".
ZDF-Satiriker Jan Böhmermann stellte einen Katalog mit 100 Fragen auf Facebook zusammen: Er startete mit einem einfachen "1. Warum?", machte unter anderem weiter mit "8. Stehe ich hinter Thomas de Mazierè? 9. Steht Thomas de Mazierè hinter Angela Merkel? 10. Schreibt man "de Mazierè" mit accent aigu oder accent grave?" und schloss mit: "100. Was sollen wir jetzt tun und was nicht?"
100 Antworten auf seine 100 Fragen liefert Andreas Rosenfelder, Leiter Feuilleton der "Welt". Etwa "2. Warum hat das niemand verhindert? - Das ist im Moment noch schwer zu sagen. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass die Terroranschläge absichtlich nicht verhindert wurden, wie die Frage nahelegt."
Böhmermanns Berufskollege Oliver Kalkofe berichtete auf Facebook, wie er am Freitagabend spät nach Hause kam und zur Überlegung gelangte: "Dieser wunderschöne Planet wird gerade immer mehr zu einem Ort, den ich am liebsten weiträumig umfahren würde. Dummheit tut weh. Wenn nicht den Dummen selbst, dann um so mehr den anderen ..."
Einen Viralhit aus Versehen landete der Liedermacher Axel Diehl, der unmittelbar nach den Anschlägen ein Lied schrieb und auf Facebook postete. Bisher wurde es 2,8 Millionen mal aufgerufen.
Fakten im Minutentakt, weltweite Anteilnahme, aber auch das Schüren von Angst und Vorurteilen: Das ist das Medien- und Social-Media-Gewitter, dass nach den Anschlägen von Paris auf uns einprasselt. Seit Freitag gibt es jenseits der Berichterstattung ein Ringen um den Standpunkt und den korrekten Umgang mit dem Thema Terror - insbesondere in Zeiten, in denen sich eigentlich in den deutschen Medien alles um die Flüchtenden dreht. Anlass für manche, hier einen nicht nur zeitlichen, sondern auch inhaltlichen Zusammenhang herzustellen. Dagegen wenden sich nicht nur Innenminister und Kanzlerin, sondern auch Markus Feldenkirchen vom "Spiegel", "SZ"-Chefredakteur Kurt Kister oder Sabine am Orde von der "Taz". Manche Medien adaptieren die "Kriegs"-Rhetorik von Frankreichs Staatspräsident Hollande (darunter "Bild", "FAS" und N-TV Online).
Ist das wirklich unsere Antwort? Unverantwortlich und unklug, wie einige Medien jetzt eskalieren! #ParisAttacks pic.twitter.com/tMhiv08PPF
— Sven Giegold (@sven_giegold) 15. November 2015
(W&V Online/mit dpa)