
Shanghai Corona Days :
Teleshopping statt Netflix: Zeitvertreib in der Krise
Stefan Justl von Storymaker China hat 45 Tage Corona-Schockstarre in Shanghai hinter sich. In Teil 7 seiner Kolumne schreibt er, wie Livestreaming und Online-Teleshopping das Einkaufsverhalten geändert haben.

Foto: Screenshot Stefan Justl
Heute habe ich mich bei Xiaolongkan reingeklickt. Ich möchte mal wieder kochen und suche nach Inspiration. Die Hot-Pot-Marke (Hot-Pot ist ein traditionelles chinesisches Gericht, ähnlich zu Fondue) mit Fertiggerichten gehört zu den Online-Stars in Corona-Zeiten. Innerhalb von zwanzig Minuten verdienten sie 200.000 RMB, rund 25.000 Euro. Ihr Umsatz kletterte in der Shutdownphase um sagenhafte 1.200 Prozent. Sie haben Profi-Köche engagiert, die im Livestreaming die Zubereitung zeigten. Zudem gab es unzählige Posts auf WeChat Moments von jungen Chinesen, die ihren Freunden zeigen wollten, was sie diese Woche wieder gekocht hatten.
So machten es zahlreiche Anbieter: Sportstudios waren mit Fitness-Trainern online aktiv. Lebensmittellieferanten gaben Ernährungstipps, Kosmetikläden engagierten Schönheitsberater. Online wurde zum Rettungsschirm: Linqingxuan, eine chinesische Kosmetikmarke, verlor seit dem Ausbruch des Virus 90 Prozent ihres Umsatzes. Als traditionelles Einzelhandelsunternehmen, das 75 Prozent Umsatz mit Offline-Shops erzielt, wäre das Unternehmen innerhalb weniger Monate insolvent gewesen. Seit dem 1. Februar startete die Marke ihr Live-Streaming auf Taobao.
Der Chef verkauft Kosmetik per Teleshooping
1.600 Offline-Verkäufer sind nun auf Taobao aktiv. Bis zum 15. Februar stieg der Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 45 Prozent. Der Gründer und CEO Laichun Sun war am 14. Februar dann selbst im Live-Streaming zu sehen und verkaufte in zwei Stunden und zwanzig Minuten Kosmetikprodukte im Wert von mehr als 50.000 Euro. Über 60.000 Chinesen schauten ihm dabei zu.
Auch Louis Vuitton beispielsweise hat schnell reagiert und konnte die E-Commerce-Verkäufe für den Valentinstag im Vergleich zum Vorjahr verdoppeln. Um dem Verlust aus entfallenen Offline-Stores aufzufangen, wurden die Fans in das Louis-Vuitton-WeChat-Miniprogramm geführt. Dort gab es Angebote wie kostenlose Lieferung, verbesserte Hygienegarantien, um trotz der Umstände das Luxuserlebnis zu erhalten.
Teleshopping statt Netflix
Livestreaming ist der Renner und könnte das Konsumentenverhalten nachhaltig verändern. Viele stationäre Händler stiegen in den E-Commerce-Handel ein. Die Verkäufer übten sich in Online-Promotion; manch einer entpuppte sich als echtes Influencer-Talent. Als Anreiz erhielten sie oft Provisionen auf den Verkauf. Die Handelsplattform Alibaba unterstützte die lokalen Händler, bot ihnen kostenlose technische Hilfe und Werbung an. Teleshopping statt Netflix-Serien.
Zu den meist gekauften Produkten gehörten Masken und Einweg-Handdesinfektionsmittel, Alkohol-Baumwolle, Thermometer, Obst und Gemüse, Instant Food, aber auch Handrührgeräte und Yoga-Matten. Selbst der Immobilienmarkt sprang in die Höhe. Und viele Chinesen tummelten sich auf Reiseportalen, um sich die nächsten Zielorte nach der Coronazeit anzuschauen. Populäre Video-Plattformen wie Douyin und Kuaishou haben während der Epidemie einen Anstieg der Followerzahlen um bis zu einer halben Million verzeichnet.
Auf dem Höhepunkt der Epidemie haben Marken ihre Social-Media-Kampagnen für Produkte weitgehend ausgesetzt. Stattdessen kommunizierten Marken mit Empathie und führten CSR-Maßnahmen durch. Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, seine Solidarität zu zeigen. So hat der CCTV-Moderator Guangquan Zhu am 6. April zusammen mit Jiaqi Li, einer der bekanntesten Live-Streamer, 16 Lebensmittel- und Getränke-Produkte von Marken aus der von Corona stark gebeutelten Provinz Hubei mit der Hauptstadt Wuhan verkauft - im Wert von mehr als 5 Millionen Euro.
Die Zahl der Live-Streamer ist sprunghaft angestiegen und bedeutet neuen Wettbewerb für die etablierten Influencer. In China nennt man sie KOL (Key Opinion Leader), weil sie sehr viel Gewicht haben – nach dem Motto: „Trust me, you need it“. International bekannt geworden ist Becky Li, die über ihren WeChat-Kanal innerhalb von vier Minuten 100 Mini-Cooper zum Preis von jeweils 36.000 Euro verkauft haben soll.
Auch der Deutsche Thomas Derksen, genannt „Afu“, hat mit humorvollen Videoclips eine mehrere Millionen große Fangemeinde aufgebaut. KOLs sind ein Teil des in China wichtigen Social Proof. Bevor ich etwas kaufe, schaue ich erst einmal, was andere zu den Produkten sagen.
Konsumenten werden zu Kaufberatern
Mehr und mehr gewinnen inzwischen KOCs, Key Opinion Consumer, an Einfluss – Durchschnittsverbraucher, die Videos und Beiträge erstellen zu ihren eigenen Produktbewertungen und Empfehlungen. Im Unterschied zu den teuren und gesponsorten Influencern gelten sie als unparteiisch und deshalb glaubwürdiger, obgleich sie oft nur eine kleine Zahl von Anhängern haben. Aufgrund der Beliebtheit chinesischer Social Apps wie Xiaohongshu (Little Red Book) oder Douyin (im Westen TikTok) können KOCs ihre Produktbewertungen leicht verbreiten.
Die steigende Popularität von KOCs ist auch darauf zurückzuführen, dass Käufer Rat suchen von Alltagskonsumenten wie sie selbst welche sind. Werdende Eltern interessiert die Meinung von anderen, die diese Erfahrung bereits gemacht haben und wichtige Tipps bei der Babynahrung oder bei Windeln geben können. „Perfect Diary“ ist eine der erfolgreichsten Kosmetikmarken in China, die im Marketing auf den Einsatz von KOCs als Multiplikatoren setzt.
Digitales Marketing hatte 2019 durchschnittliche Wachstumsrate von 20 Prozent, das sind mehr als 2017 und 2018. Vier von fünf Vermarktern wollen Umfragen zufolge ihr Budget für digitales Marketing erhöhen und Investitionen in Social Marketing weiter ausbauen.
50 Prozent mehr stremmende Marken
Laut einer Studie von AdMasters unter digitalen Vermarktern bevorzugen 60 Prozent Kooperationen mit KOL, gefolgt von kurzen Video/Livestream (55 Prozent), offiziellem WeChat-Acocunts (54 Prozent), E-Commerce (39 Prozent), Social CRM (39 Prozent) und offiziellem Weibo-Accounts (32 Prozent). Seit Februar ist die Zahl der Marken, die auf der beliebtesten Einkaufsplattform Taobao live streamten, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 50 Prozent gestiegen.
Seit kurzem sind Läden wieder geöffnet. Auch in Wuhan haben Supermärkte und Shopping Malls ihre Absperrungen beseitigt. Doch die Käufer lassen auf sich warten. So erzählt der Filialleiter von Walmart, dass der Supermarkt weitgehend leer ist. Möglicherweise hinterlässt Corona Spuren und verlagert die Kundenbeziehungen langfristig auf den digitalen Raum. Ich werde zum Hotpot-Essen wieder lieber ins Restaurant gehen; das Esserlebnis mit Freunden oder auch Geschäftspartnern ziehe ich dem Kocherlebnis mit Instantprodukten vor.
In der nächsten Folge unterhalte ich mich mit Theresa Stewart vom German Center in Taicang über die Erfahrungen, die deutsche Unternehmen in der Coronazeit in China machten. Bleiben Sie gesund.
Stefan Justl verantwortet als General Manager das Geschäft von Storymaker in China. Die Kommunikationsagentur sitzt in Tübingen, München, Berlin, Beijing und Shanghai. Direkt vom Shanghai-Homeoffice aus berichtet er nun zweimal pro Woche auf wuv.de über die Auswirkungen von Corona in China, den Umgang mit der Krise und wie es dort jetzt weitergeht. Den Pilot der Miniserie "Arbeiten in Shanghai: 45 Tage Corona-Schockstarre" lesen Sie hier. Hier geht's zu den Beiträgen über Einkaufen, die Gesundheits-App , Schutzmasken Homeschooling, hilfreiche Apps und saubere Luft.