Kreation des Tages:
Reporter ohne Grenzen und DDB umgehen Zensur mit Pop-Songs
"Die Wahrheit findet immer einen Weg": Gemeinsam mit DDB und MediaMonks hat Reporter ohne Grenzen einen genialen Weg gefunden, um zensierte Texte zu verbreiten. Streamingdienste und Musik helfen dabei.
Der weltweiten Kampagne #truthfindsaway von Reporter ohne Grenzen wünscht man viele, viele, viele Zuhörer - und Berge von Awards. Denn sie verdient soviel Aufmerksamkeit wie nur irgendwie möglich. Zum Tag der Internetzensur am 12. März veröffentlichte die Organisation eine "Uncensored Playlist". Sie nutzt klug Musik als Schlupfloch, um zensierte Artikel über Streamingdienste in Ländern zu verbreiten, in denen laut der Organisation autokratische Herrscher das freie Wort unterdrücken.
Wie gelingt das? Journalisten aus China, Ägypten, Thailand, Usbekistan und Vietnam wandelten mit der Hilfe lokaler und internationaler Künstler jeweils zwei ihrer Texte zu Pop-Songs um. Über die Streamingdienste Spotify, Deezer und Apple Music lassen sich diese zehn Songs weltweit anhören - auch in ihren Heimatländern, in denen die Originaltexte wegen der strengen Zensur nicht erscheinen dürfen.
Streamingdienste als Hintertür
"Wir nutzen mit dieser Kampagne eine Hintertür", sagt ROG-Vorstandsmitglied Matthias Spielkamp. "In vielen Ländern verwehren die Machthaber den Menschen freien Zugang zum Internet, doch Musik-Streaming-Dienste sind fast überall frei zugänglich. Also verbreiten wir die Texte mutiger Journalisten als Pop-Songs - damit Zensoren und Diktatoren in aller Welt endlich verstehen: Das freie Wort lässt sich nicht unterdrücken, die Wahrheit findet immer einen Weg."
Reporter ohne Grenzen arbeitete für das Projekt mit der Agentur DDB Germany und der Produktionsfirma MediaMonks zusammen. Zusammen mit Komponist Lucas Mayer und Filmemacherin Iris Fuzzaro verwandelten sie zehn zensierte Artikel zu zehn unzensierten Pop-Songs. Abgesehen von den Texten auch musikalisch eine Entdeckung. Hier ist die Playlist auf Spotify.
Album mit weiteren Informationen
Die in Lieder verwandelten Texte können Hörer in aller Welt über die Streaming-Plattformen Spotify, Deezer und Apple Music anhören, und zwar auf Englisch und in der Originalsprache der Länder, aus denen die Journalisten stammen. Zusätzlich zu den Liedtexten gibt es ein künstlerisch aufwändig gestaltete Alben, die Informationen zur Biographie der Journalisten und Musikvideos bieten, die die Situation in den jeweiligen Ländern erklären.
Zusätzliche Versionen sollen sicherstellen, dass die gesungenen Texte die Menschen in den Ländern auch wirklich erreichen. In diesen sind die Namen der Autoren durch Pseudonyme ersetzt, die Cover neutral gestaltet und die Titel der Songs so abgeändert, dass sie an einer etwaigen Vorzensur vorbeikommen, falls die Originale blockiert werden. DDB Germany und MediaMonks stellten außerdem sicher, dass in jedem der fünf Länder zumindest eine der ausgesuchten Streaming-Plattformen verfügbar ist.
Weitere Informationen gibt es auf der Webseite www.uncensoredplaylist.com, auf der das Projekt präsentiert wird, mit Portraits der einzelnen Journalisten und Informationen zu der Situation der Pressefreiheit in den jeweiligen Ländern. Außerdem sind dort auch die Texte der - zuvor zensierten - Journalisten im Original zu lesen.
Die Album-Cover:
Zensur in China, Usbekistan, Ägypten, Vietnam, Thailand
Und das sind die Journalisten, die Reporter ohne Grenzen damit unterstützt (Die Hintergrundinformationen stammen von der Organisation):
China
Exil-Journalist Chang Ping aus China gehörte zu den bekanntesten Journalisten in China, bevor er 2008 wegen kritischer Artikel unter anderem über die Tibet-Politik der Regierung mit einem Berufsverbot belegt wurde. Seit 2011 lebt der mehrfach mit Preisen für seine Menschenrechtsarbeit ausgezeichnete Journalist im Exil in Deutschland. China steht auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 176 von 180 Staaten. Mindestens 54 Blogger und Journalisten sitzen wegen ihrer Arbeit derzeit im Gefängnis.
Auf der Uncensored Playlist ist Chang Ping, der schon als Kind Songwriter werden wollte, mit seinem Artikel "Freedom Cage" von 2015 vertreten sowie mit "Speech is Freedom", seiner Dankesrede für den International Press Freedom Award, den ihm die kanadische Journalistenorganisation CJFE 2016 verlieh.
Usbekistan
Galima Bukharbaeva aus Usbekistan ist Gründerin und Chefredakteurin von centre1.com, einem Nachrichtenportal über Zentralasien. Von 2005 bis 2015 war sie Chefredakteurin der unabhängigen Nachrichtenseite uznews.net, eine der wichtigsten Informationsquellen über das Land. In Usbekistan hatte Bukharbaeva unter anderem als Korrespondentin der Nachrichtenagentur AFP und Leiterin des Regionalprogramms am Institute for War and Peace Reporting gearbeitet. Als Augenzeugin des Massakers von Andischan, bei dem usbekische Soldaten Hunderte unbewaffneter Bürger erschossen, musste sie 2005 wegen ihrer kritischen Berichterstattung fliehen. Sie lebte im Exil, unter anderem in den USA und Deutschland. In ihrer Heimat werden unabhängige Journalisten auch nach dem Tod von Diktator Islam Karimow verfolgt, das Internet wird stark zensiert. Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Usbekistan auf Platz 169 von 180 Staaten.
In Bukharbaevas Lied "A businessman died" geht es um die in Usbekistan allgegenwärtige Gewalt der Polizei, die in offiziellen Statistiken nicht auftaucht, sodass die Hinterbliebenen der Opfer keine Chance auf Aufklärung und Wiedergutmachung haben. "Dear Mr. President" erzählt die Geschichte des Unternehmers Olim Sulaimonow, den korrupte Beamte zwangen, ins Geldwäschegeschäft einzusteigen.
Ägypten
Basma Abdelaziz ist eine preisgekrönte Schriftstellerin und Kolumnistin aus Ägypten. Der Druck auf Journalisten durch die Regierung und durch Geschäftsleute, die dem Regime nahestehen, wächst stetig. Sieben Jahre nach der Revolution von 2011 ist Ägypten eines der Länder, in denen weltweit die meisten Journalisten im Gefängnis sitzen. Auf der ROG-Rangliste der Pressefreiheit steht es auf Platz 161 von 180 Staaten.
Abdelaziz' Lied "Hunger Games" thematisiert die Ungleichheit zwischen wohlhabenden Regierungsbeamten, die einen ausschweifenden Lebensstil pflegen, während große Teile der Bevölkerung in Armut leben. "Modern Ovens" beschäftigt sich mit der Verfolgung von Andersdenkenden.
Vietnam
Der Blogger Bui Thanh Hieu aus Vietnam, der heute im Exil in Deutschland lebt, schreibt seit 2005 über Korruption in seinem Heimatland Vietnam. Die kommunistische Partei kontrolliert die Presse dort mit eiserner Hand, Kritik an der Regierung ist verboten. Blogger und Bürgerjournalisten sind die einzigen Quellen für unabhängige Informationen. Viele von ihnen wurden in den vergangenen Jahren verhaftet, zum Teil von der Polizei geschlagen und erhielten jahrelange Haftstrafen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Vietnam auf Platz 175 von 180 Staaten.
Bui Thanh Hieus Lieder in der Uncensored Playlist sind von zweien seiner Blogeinträge inspiriert. "When did Do Dang die?" erinnert an den tragischen Fall des 17-jährigen Do Dang Du, der unter ungeklärten Umständen im Polizeigewahrsam starb. In "Introducing Chaos" geht es um die Verfolgung und Verurteilung des prominenten vietnamesischen Politikers und Geschäftsmanns Trinh Xuan Thanh durch korrupte Beamte.
Thailand
Die Journalisten der Online-Zeitung Prachatai kämpfen für Pressefreiheit, obwohl ihre Internetseite in Thailand seit Jahren gesperrt ist. Eine Gruppe engagierter Menschenrechtsaktivisten, Hochschullehrer und Parlamentsabgeordneter hatte die Zeitung 2004 gegründet. Sie ist eine der wenigen Quellen für unabhängige Informationen in Thailand, wo die Behörden seit dem Militärputsch 2014 nur noch von der Staatsspitze abgesegnete Berichterstattung zulassen und das Internet streng kontrollieren. Die Zahl der Prozesse wegen Majestätsbeleidigung, die mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden kann, steigt seither rasant. Nach dem Tod von König Bhumibol wurde die Zensur erneut verschärft. Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit steht Thailand auf Platz 142 von 180 Staaten.
Das Lied "Infographic" ist inspiriert von einer in Prachatai veröffentlichten Infografik, die auf besonders drastische Strafen hinweist, die das Militär in Fällen angeblicher Majestätsbeleidigung verhängt hat. In "Underground Radio" geht es um die Kultur von Exil-DJs im Untergrund, die heimlich kritische Radioprogramme produzieren und versenden und sich damit selbst großer Gefahr aussetzen.