Essay:
Parallelwelten: Wir brauchen mehr Brücken
Neue Technologien erschaffen neue Paralleluniversen - wie können wir als Gesellschaft und als Individuen mit dieser rasanten Entwicklung mithalten? Und wie entstehen neue Brücken?
Die Digitalisierung hat aus der Welt ein Dorf gemacht. Alles ist plötzlich nur noch einen Klick entfernt und manchmal nicht mal das. Wir öffnen Instagram und erleben die Welt, wie sie gerade von unseren Freunden und Bekannten gesehen wird. Wir springen von einer Story zur nächsten und müssen uns nur noch treiben lassen – von einer virtuellen Darstellung der Realität in die nächste. Eine ganze Generation erlebt die Welt nur noch durch die Linsen und Bildschirme ihrer Smartphones. So erscheint es zumindest denjenigen, die noch in der analogen Zeit aufgewachsen sind.
Doch wer kann sich der Faszination der digitalen Welt wirklich komplett entziehen? Ein Leben ohne Smartphone ist theoretisch möglich, in der Praxis merken wir aber sehr schnell, wie viel wir damit aus der Hand geben: Wir fühlen uns nackt, reduziert, manchmal sogar hilflos. Nicht, weil wir nicht mehr überall telefonieren können, was einmal die grundlegende Funktion der Smartphones war, sondern weil uns die Verbindung zur digitalen Welt fehlt. Brückentechnologie bekommt hier eine ganz neue Bedeutung. Das Smartphone schlägt eine Brücke in eine Parallelwelt, die für jeden anders aussieht.
Wir erzeugen uns eine eigene Welt, indem wir bewusste und unbewusste Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen nutzen zahlreiche Algorithmen, um für uns eine maßgeschneiderte digitale Welt zu schaffen, die mit der tatsächlichen Realität längst nichts mehr zu tun hat. Instagram zeigt uns Tag für Tag eine schöne heile Welt mit glücklichen Menschen, die gefühlt jeden Tag an einen atemberaubenden Ort auf dieser Welt reisen und dies mit uns teilen. Während wir uns noch von der Schönheit der Parallelwelt blenden lassen, beklagen in den Niederlanden Pflanzenzüchter den Verlust ganzer Tulpenfelder. Schuld daran ist nicht etwa der Klimawandel oder das trockene Frühjahr, sondern Horden von Instagrammern, die in ihrer Gier nach dem perfekten Selfie im Tulpenmeer baden und dabei massenhaft Pflanzen zerstören.
Kann die Gesellschaft mit der Entwicklung mithalten?
Das Phänomen der Parallelwelten ist schon heute kaum noch zu überblicken. Dabei entstehen gerade neue Technologien, die für sich genommen schon als neue Paralleluniversen anzusehen sind: Künstliche Intelligenz, Augmented & Virtual Reality, Voice, 5G oder Quantum Computing. Kombinieren wir diese Technologien miteinander und verbinden sie wiederum durch neue Brücken, steigt die Zahl möglicher Parallelwelten in absurde Dimensionen. Die Frage, die sich dabei unwillkürlich und vehement aufdrängt: Können wir als Gesellschaft und als Individuen mit dieser rasanten Entwicklung mithalten?
Die gleiche Frage stellt sich für die Wirtschaft. Unternehmen müssen die Fähigkeit zum Wandel als Kernkompetenz annehmen, ohne die der eigene Fortbestand mehr als nur unsicher ist. Der Status Quo von heute ist nur noch der Kontext, aus dem das Geschäft von morgen entsteht. Insofern müssen Unternehmen immer in Parallelwelten existieren: In einer Welt kümmern sich die Mitarbeiter um das Jetzt, in vielen anderen werden Innovationen für die mögliche Zukunft entwickelt. Dazu gehört das explizite Verlassen des eigenen Universums: Was bewegt die Märkte, lokal und vor allem global? Silicon Valley oder Silicon Dragon? Und was passiert in anderen Regionen, die von der Marktdemokratisierung digitaler Technologien enorm profitieren und keine Altlasten überwinden müssen?
Viel wird auch von der Entscheidung abhängen, ich welcher Welt unsere Politiker in Zukunft leben. So fortschrittlich es auch ist, schon heute über Flugtaxis zu sprechen, so gefährlich sind Aussagen wie „5G ist nicht an jeder Milchkanne notwendig“. Beide Innovationen haben das Potenzial die bestehende Kluft zwischen Stadt und Land entweder zu verstärken oder aber aufzulösen. Ähnlich sieht es bei der Künstlichen Intelligenz aus: „Deutschland soll führender KI-Standort werden“, erklärt die Bundesregierung im Herbst 2018 und stellte Förderungen in Höhe von drei Milliarden Euro bis 2025 in Aussicht – wenige Monate nachdem China umgerechnet rund 14 Milliarden Euro allein für die Hightech-Metropolregion Tianjin für einen KI-Fonds bereitstellte. Auch das sind Parallelwelten.
Wir müssen uns nicht nur der Parallelwelten bewusstwerden, wir müssen auch die Auswirkungen und die Mechanismen dahinter verstehen lernen. Nur dann können wir die Fragmentierung der Realität als Herausforderung angehen und genügend Brücken in die physikalische Wirklichkeit bauen.
Text: Falk Hedemann