Interview mit Christian Rätsch:
Social Commerce führt uns in die "Brand Now World“"
Social Media und Commerce wachsen immer mehr zusammen. Goldene Zeiten für Marketer, findet Christian Rätsch, CEO von Saatchi & Saatchi/ Leo Burnett. Denn es vereint die komplette Journey.
Social Media wird die neue Shopping Mall. Denn: Beim E-Commerce suchen die Kunden das Produkt - und finden es. Anders beim Social Commerce: Hier kommt das Produkt zum Konsumenten, man kauft es aus der Inspiration heraus. Christian Rätsch erklärt, was das für die Customer Journey heißt, welche Marken vieles schon richtig machen - und wofür wir überhaupt noch Werbung brauchen, wenn das Produkt zum Kunden kommt.
Herr Rätsch, Social Media und Commerce – eine schwierige oder eine befruchtende Beziehung?
Social Commerce ist die Erfüllung aller Marketingträume, denn niemals zuvor lagen Inspiration und die Kommerzialisierung des Markeneindrucks näher beieinander. Die Verbindung von Social Media und Commerce stellt die viel beschworene Customer Journey auf den Kopf. Statt Social Media nur als zuführenden Teil der Kunden-Kauf-Beziehung zu sehen, bildet Social Commerce selbst die komplette Journey in sich ab. Ich spreche bei Social Commerce daher auch von der „Brand Now World“, in der Inspiration und Kauf verschmelzen. Social Media bedient heutzutage die medialen Grundbedürfnisse: Hilf mir oder unterhalte mich. Wenn nun mein Social Media-Lieblingsinhalt mit der Fähigkeit einer Kauffunktion ohne Medienbrüche eins wird, entsteht die magische Verbindung des „Discovery Commerce“ oder ganz deutsch: Stimulanz-Kauf.
Welche Zielgruppen stehen Social Commerce aufgeschlossen gegenüber, welche zögern noch?
In Deutschland haben wir in allen Zielgruppen mit Social Commerce bis dato noch wenig Routinen, aber der Markt steht vor dem Durchbruch. Je jünger die Konsumenten, desto höher die Affinität zum Stimulanz-Kauf. Aus eigener Analyse wissen wir, dass die Mehrheit der 16- bis 24-Jährigen heute schon Produkte kauft, die sie zuvor bei Influencern oder in ihren sozialen Kreisen gesehen haben. Zudem teilen sie aus Gewohnheit ihre Einkäufe im Netz und regen zum Nachkauf an.
Welche Marken sehen Sie als positive Beispiele und was machen diese Marken richtig?
Grundsätzlich ist Social Commerce für alle Branchen geeignet, die auch sonst im E-Commerce erfolgreich unterwegs sind. Natürlich dominieren Lifestyle, Beauty, Fashion, Einrichtung oder Food das Geschäft, da sie stark über inspirierende Reize funktionieren. Aber auch Technologie, Entertainment oder Tourismus werden ihren Markt finden. Marken, die erfolgreich Social Commerce betreiben, liefern primär starken Inhalt, den sie mit konkreten Angeboten verbinden. Als Pionier hat die Marke Sephora in den USA vergangenes Jahr ihren Instagram Shop eröffnet. 20 Millionen Follower können direkt aus Instagram Beauty-Produkte kaufen, ohne auf die Webseite des Händlers wechseln zu müssen. Zudem experimentiert die Marke auf Facebook wöchentlich mit Livestream-Shopping. Das Ganze erinnert an QVC, jedoch sind die Inhalte mehr als Tutorial für Schönheit, denn als Verkaufsshow inszeniert. Ähnlich hat L´Oréal auf Facebook mit dem Virtual Beauty Festival in Malaysia überzeugt. Mittels Facebook Live-Content und der Liveberatung durch 122 Schönheitsexperten konnte die Marke belegen, wie Content zu Commerce führen kann. Als Social Commerce-Macher sei auch auf das StartUp charles hingewiesen. Hier entsteht gerade ein Player für Social Commerce made in Germany, der Marken hilft, zum Beispiel Whatsapp als Vertriebskanal zu nutzen.
Was bedeutet die Entwicklung für den Vertrieb der Zukunft?
Anders als im E-Commerce finden beim Social Commerce Einkäufe innerhalb einer Social Media-Erfahrung statt. Der vertriebliche Prozess ist daher von der Produktentdeckung bis zum Check-out-Prozess neu zu organisieren. Es gilt, das neue Frontend „Social“ mit den bestehenden Backends zusammenzuführen. Der Vertrieb muss sich technologisch rüsten und Themen wie Produktinformationsmanagement, Content Management, Auftragsdatenverarbeitung etc. beherrschen. Zudem müssen Bezahlsysteme – hin zu virtuellen Währungen, PayPal oder Apple Pay – angepasst werden. Zuletzt ist die Lager- und Lieferlogistik bei kleinteiligen Warenkörben eine Herausforderung. Bedeutsamer ist aber die Veränderung in der vertrieblichen Aktivierung seitens der Marken. Content wird zunehmend relevanter, und im Social Commerce gelten neue Spielregeln: Wer Menschen bewegen will, muss sie berühren. Die emotionale Bindungskraft von Kommunikation wird wieder wichtiger. Content wird zukünftig zum Service. Statt Menschen zu unterbrechen, muss Kommunikation so gut sein, dass sich die Menschen ihr freiwillig anschließen, sie teilen, sie liken und schlussendlich zum Klick inspiriert.
Brauchen wir dann noch Werbung? Und wenn ja, welche?
Marken leben in den Köpfen der Menschen. Wenn sie gut geführt werden, haben sie eine Bestimmung. Menschen fühlen sich ihnen emotional verbunden. Werbung spielt hierbei auch in Zukunft eine erhebliche Rolle. Jedoch nicht als Dauer-Werbeschleife mit überhöhten Versprechen. Solange Werbung nervt, wird Werbung zum größten Feind ihrer selbst. Vielmehr muss Werbung einen Eindruck hinterlassen, der Menschen begeistert und der emotional bindet, statt zu unterbrechen. Daher wird kreativ erdachte und liebevoll umgesetzte Kommunikation aus sich heraus Reichweite und Zustimmung bekommen. Wobei Reichweite nicht mehr für mediale Verbreitung, sondern für Qualität und für die Idee hinter der Kommunikation steht. Hier reichen sich Social Commerce und zukunftsfähige Werbung die Hand – beide begeistern, inspirieren und berühren auf ihre Weise und hinterlassen einen bleibenden Eindruck.
Wohin geht der Trend im Social Commerce?
Noch ist Social Commerce selbst der Trend und steckt in den Kinderschuhen. Deutschland ist da im Vergleich zu den USA und China eher Schlusslicht. Haben sich Ende-zu-Ende-Shoppingerlebnisse in den sozialen Netzwerken erst einmal durchgesetzt, wird sich in der entfernten Zukunft der Social Commerce auch mit der Realität verbinden: Dinge, die ich im Alltag, also im realen Leben sehe, werden durch mein Smartphone zukünftig ‚shoppable‘ – indem die Kamera als Shopping-Navigation dient: Einen Turnschuh an den Füßen eines Freundes halte ich vor meine Kamera und erhalte unmittelbar das Angebot. Im Restaurant fotografiere ich ein Gericht und gelange zu den Lebensmitteln, die ich zum Nachkochen benötige. Das Kleid der Agentin in James Bond kaufe ich noch während des Kinobesuches. Wir werden uns zukünftig also im größten Kaufhaus der Welt bewegen – nämlich der Welt selbst.